König Ober Untertan
(Oder: ein Systemabsturz)
1
Dieter Hesse war sich seiner Sache sicher. „Ich mache BWL, bin schon angemeldet. Im Herbst kann es gleich losgehen mit dem Studium!“
Selbstbewusst blickte er in die Runde auf dem Pausenhof. Gepflegter Kurzhaarschnitt und große Armbanduhr passten zum Eindruck, den die Schulkameraden von ihm hatten. Mit heller Sommerhose und gestreiftem T-Shirt wirkte er leger – noch. Doch dass dies bald einem Anzug mit Krawatte weichen würde, war für sie abzusehen. Heute war er der Liebling der Lehrer, später ganz gewiss der Liebling aller Vorgesetzten.
Seine Mitschüler waren sich in ihrer Studienwahl nicht so sicher. Fahrzeugbau, Soziologie, Elektrotechnik, Pädagogik, Kunstgeschichte, irgendetwas mit Umwelt. Später würde sich schon eine Möglichkeit ergeben. Je mehr sie überlegten, desto unsicherer wurden sie. War es nicht so, dass man am Ende ohnehin etwas ganz anderes machte, als man studiert hatte? Nur Dieter war klar, was ihn nach dem Studium erwartete. „Ich angle mir einen Controller-Job, vorzugsweise in einem Pharmakonzern, die werden gut bezahlt. Und natürlich beantrage ich einen Firmenwagen, eine gut aussehende Sekretärin und ordentliche Boni.“
„Woher nimmst du die Gewissheit, überhaupt eine Stelle zu finden?“
Für ihn war das eine der leichteren Übungen. „Wenn du gut bist, findest du immer etwas. Ansonsten helfen mir meine Parteifreunde.“
Nicht umsonst war er vor zwei Jahren der Jugendorganisation der traditionell stärksten Partei der Gegend beigetreten. Ihm gefiel die Idee, mit Bürgermeistern und Kreisräten auf Augenhöhe zu reden, mit ihnen verhandeln zu können. Es taten sich so viele Möglichkeiten auf, die Verbindungen in diverse Firmen und Gremien waren faszinierend. Um welche politische Sache es dabei ging, war ihm egal.
Elise, seine Freundin, war wie all die anderen. Sie verstand ihn nicht, dachte an ein Freiwilliges Soziales Jahr, einen Job als Erntehelferin im Ausland oder an eine Weltreise. Alles Dinge, die kein Geld brachten, den Arbeitsbeginn nach hinten verschoben und eine Lücke im Lebenslauf hinterließen. Freiwilliges Soziales Jahr! Arbeit ohne Bezahlung, was für eine Verschwendung! Nein, mit so etwas wollte Dieter sich nicht aufhalten. Er würde Schluss machen mit Elise. Sie konnte ihn nicht aufhalten mit ihrem naiven Geschwafel.
Nebenan gab es eine interessantere Unterhaltung auf dem Pausenhof, die Zuschauer lockte. Es ging um die neueste PISA-Studie, in der das deutsche Schulsystem im internationalen Vergleich wieder ein paar Plätze nach hinten gerutscht war. Sascha plädierte dafür, sich ein Vorbild an der Selbständigkeit der Skandinavier zu nehmen und das Schulsystem dahingehend zu verbessern. Bruno argumentierte dagegen. Er war so etwas wie der Wortführer der Klasse. Sein bulliges Äußeres mit kurzrasierten Haaren und angewidert wirkender Mundpartie unterstrich seine Streitlust. Er hatte nicht immer die besten Ansichten, aber er hatte zu allem eine einfach nachvollziehbare Meinung.
„Du kannst doch nicht das gesamte Schulsystem umbrechen, nur damit es anders wird“, warf er ein. „Das bestehende System funktioniert doch. Du musst nur ein paar Sachen optimieren, wie Lehrpläne, Fortbildung der Lehrer, Vernetzung mit europäischen Hochschulen, schon sind wir ein paar Klassen besser. Dass es nicht von heute auf morgen geht, sollte klar sein.“ Die Zuhörer waren unentschlossen.
Dieter gesellte sich dazu. „Bruno hat recht“, meinte er. „Das System komplett umzukrempeln führt ins Chaos. Wie willst du Strukturen, die in Skandinavien gewachsen sind, bei uns einpflanzen? Hast du dir das genau überlegt, bevor du hier loslegst? Du musst das Vorhandene berücksichtigen, sonst kommst du zu nichts.“
Sascha war davon nicht überzeugt. „Habt ihr einmal überlegt, wie wir es schaffen, Jahr für Jahr weiter abzurutschen? Verschiedene Schularten, viele Bundesländer mit eigenem Lehrplan, Frontalunterricht, Methoden wie vor fünfzig Jahren. Noch Fragen?“
Nicht nur inhaltlich, auch äußerlich war er das Gegenteil von Bruno, schlank, langhaarig, ruhig und belesen.
„Dann ändere es Schritt für Schritt! Dein Gejammer bringt gar nichts!“ So einfach war das für Bruno.
Dieter stimmte ein: „Du kannst ja in den Busch gehen, wo es noch keine Schule gibt. Aber erzähl uns bitte nicht, was wir zu tun haben!“
Das fühlte sich gut an. Jemandem zu zweit die Meinung zu sagen, ihn niederzuargumentieren, bis ihm nichts mehr einfiel. Er hatte Lust nachzutreten. „Auf der Sonderschule haben sie Methoden wie die Skandinavier. Das ist doch was für dich!“
Bruno lachte laut und dreckig. Das gab Dieter ein Gefühl von Bestätigung und Zugehörigkeit. Er tat sich schwer, mit seinen Klassenkameraden zu kommunizieren, die so viel lässiger und weltoffener waren als er.
Der Gong ertönte und die Schüler machten sich auf den Weg in die Klassenzimmer. Die meisten von Dieters Mitschülern waren sich einig über ihn: Er würde es zu etwas bringen. Doch beliebt war er nirgends.
Nach der Schule wartete eine schicke Limousine auf ihn. Sein Vater hatte frei und holte ihn ab. Das machte er gerne, um sein Auto zeigen zu können. Doch Dieter war nicht ganz wohl dabei. Lachten seine Mitschüler da heimlich über ihn, weil er von seinen Eltern abgeholt wurde? Aber es war allemal luxuriöser, als in einem überfüllten Bus mit schreienden Siebtklässlern zu stehen. Brav stieg er ein und ließ sich nach Hause fahren.
2
Könntest Du bitte immer die aktuelle Version der Jahresübersicht ablegen?, stand in Ankes E-Mail.
Aha, so war das also, dachte er. Die blöde Schlampe will mich bloßstellen und mich während der Probezeit loswerden, deshalb war unser Abteilungsleiter in Kopie. Er musste antworten, damit der Chef kein schiefes Bild bekam. Na warte, den schieß` ich dir zurück. Also los, allen antworten: Es gibt nur eine Version. Sie ist aktuell und liegt unter H:/Steuerung/Berichte/Jahresübersicht.xls. Das sollte sitzen. Es bewahrheitete sich also, was ihm sein Vater aus der Arbeitswelt berichtete und er was er jetzt und hier in seinem Studentenjob ebenfalls mitbekam: Mobbing gehörte zum Alltag. Es war die Waffe der Schwachen, davon durfte man sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Es war ein Kampf, und er musste gewonnen werden!
Nach zwei Stunden Tabellenpflege stand die Mittagspause an, die Dieter immer in der Kantine verbrachte. Zum einen gab es dort warme Mahlzeiten, die in seiner Wohnung oft ausfielen, wenn er länger blieb und keine Lust zum Kochen mehr hatte. Zum anderen war die Kantine Umschlagplatz für Informationen. Gerade er als Neuling war darauf angewiesen.
Zur Sicherheit kopiere ich den aktuellen Stand der Tabelle auf meinen USB-Stick, dachte er, bevor er seinen PC per Kennwort sicherte. Mit USB-Stick am Schlüsselbund machte er sich auf in die Kantine.
Da saß Anke mit ihren Weibern. Sollten sie ruhig gackern, ihnen dürfte bald keiner mehr glauben, den dummen Glucken. Wo waren seine Leute? Ah, dort saßen seine neuen Freunde, und Plätze waren auch noch frei. Nichts wie hin und die Ohren ganz weit aufmachen. Sicherheitsgriff: USB-Stick hing noch am Schlüsselbund und die Krawatte wurde von der Nadel gehalten.
„Mahlzeit!“
„Mahlzeit.“
Flurfunk und Verbündete waren das A und O zum Überleben und Vorankommen. Das hatte ihm auch sein Vater immer wieder ans Herz gelegt. Er arbeitete als Controller in einem Automobilkonzern und fuhr immer die neuesten Modelle. „Je höher man kommt, desto mehr Neider hat man. Aber wenig Geld zu verdienen, ist auch keine Option“, sagte er immer. Ohne die Ratschläge seines Vaters wäre er nicht so weit gekommen. Jetzt selbst „an der Front“ zu stehen, wo ihm die rauen Sitten ins Gesicht schlugen, machte ihm Angst. Doch er würde es überstehen, sich daran gewöhnen und dieses Spiel gewinnen. Die Hesses gehörten zu den Siegern!
Während des Essens fragte ihn eine Buchhalterin plötzlich: „Stimmt es eigentlich, dass du in psychologischer Behandlung warst?“
„Nein, das stimmt nicht“, tat er überrascht. „Wer setzt denn solche Gerüchte in die Welt? War es Alexandra? Sie war selbst in Behandlung, sucht jetzt laufend Leute, denen sie dasselbe anhängen kann.“ Ihm gefiel sein überraschter Ton. Er hatte Alexandras Plan schon bemerkt und sich vorgenommen, ganz überrascht zu reagieren. Sie konnte ihn nicht ausbooten!
„Du und Anke seid nicht die große Harmonie?“
„Naja“, erwiderte er taktisch. „Sagen wir mal so: Sie will ihre Fehler auf mich abschieben. Ich hoffe, sie ist nur privat, wie sagt man, nicht ganz ausgelastet, wenn ihr versteht. Sonst fällt das unter Vorsatz.“
Ja nichts gefallen lassen von ihr. Sollte Anke sehen, wer am längeren Hebel saß. Er würde es noch zu etwas bringen in dieser Firma. Anke konnte sich ihm nicht in den Weg stellen.
Am Nebentisch ging es lustig zu, dort saßen Arbeiter mit weißen Hauben als Haarnetz auf dem Kopf.
„Das Essen sieht geheimnisvoll aus. Ich möchte gar nicht wissen, was sie da reingerührt haben.“
„Du kannst ja vorsorglich dein Testament schreiben, gleich hier auf den Kassenzettel.“
„Ich kann doch nicht schreiben. Deswegen steh‘ ich auch nur am Rührtopf.“
„Apropos, kennt ihr den? Sie müssen beim Ausfüllen des Totenscheins mehr Sorgfalt walten lassen, mahnt der Chefarzt den jungen Assistenten. Sie haben in der Spalte 'Todesursache' schon wieder Ihren eigen Namen eingetragen!"
Großes Gelächter war die Antwort.
An Dieters Tisch ging es sachlicher zu. Sie hatten keine Zeit für dumme Witze; immerhin würde aus ihnen noch was werden.
„Wie weit bist du mit deinem Report?“
„Magdeburg hab‘ ich schon durch, Rheinhausen zur Hälfte.“
„Ich hab‘ schon wieder so‘n blöden Bug in der Tabelle. Bis ich den gefunden hatte ..., oh man.“
„Ja, da muss man genau aufpassen.“
Zurück an seinem Arbeitsplatz öffnete Dieter wieder seine Tabelle, lud die Kopie von seinem Stick und verglich beide Versionen. Heute stimmten sie überein. Doch wenn er nicht genau aufpasste, schoben Kollegen ihm Fehler unter. So wie Jörg letzte Woche. er war jedoch blöd genug gewesen, Fehler einzubauen und von seinem PC aus zu speichern. Zu einer Uhrzeit, zu der Dieter seine Abwesenheit belegen konnte, indem er sich per Handy-Anruf bei seinem Abteilungsleiter in den Feierabend verabschiedete. Anfänger! Auch den würde er gegen die Wand fahren lassen.
Bei Gelegenheit sprach er Jörg darauf an, als der Chef weg war und viele Kollegen es mitbekamen. Er redete sich mit einem Fehler hinaus, doch die Kollegen hatten es gehört und sich eine Meinung gebildet. So würde es jedem ergehen, der sich ihm in den Weg stellte. Sein Teil der Tabelle gehörte allein ihm!
In dieser Tabelle landeten die Monatszahlen der einzelnen Standorte, um von verschiedenen Controllern aufbereitet zu werden. Dabei gab es abgesteckte Bereiche. Und wenn in Dieters Bereich plötzlich Zahlen vertauscht wurden, oder perfider noch: Die hinterlegten Funktionen geändert waren, hörte für ihn der Spaß auf. Zumal er dann zur Verantwortung gezogen werden würde. Er versuchte ohnehin schon, seinen Bereich der Tabelle mit einem Kennwort zu schützen. Aber Jörg, die Ratte, musste sich einen Passwortknacker besorgt haben. Vielleicht war es nur ein Versehen gewesen, aber er musste wachsam bleiben. Es würde kein Spaziergang werden, das war ihm klar. Hier war er unter seinesgleichen. Es war gefährlich, sich mit Kollegen allzu sehr anzufreunden. Man musste sie als Konkurrenten betrachten, die nur auf Fehler warteten. Oft genug hatte sein Vater ihn davor gewarnt. Besser, man bemühte sich um gute Kontakte zur Chefetage. Hier wollten alle glänzen und befördert werden. Doch er würde es schaffen. Von Kollegen ließ er sich nichts gefallen, in der Chefetage machte er guten Eindruck – die Beförderung war nur eine Frage der Zeit, da war er sich sicher.
Ende der Leseprobe
Fortsetzung unter:
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Alle Rechte liegen beim Verfasser
Lektorat: Dr. Gregor Ohlerich
Cover: St. Königshausen Grafikdesign
Umfang: ca. 30 Seiten
Preis: 1,02 EUR
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