Sonntag, 26. April 2015

Taschenrechnereien

Ein rohes Retro-Schmankerl aus dem Jahr 1994, behutsam überarbeitet, ansonsten unverändert. Damals hatte ich noch eher experimentell geschrieben, beeinflusst von den Expressionisten. 

Das Stück wurde damals sogar abgedruckt (in einer Art Verbands-Zeitung). Auflage (getackerte Kopien): ca. 150 Stück. Wahnsinn, oder? 








Taschenrechnereien   
(Wohnküchenmix)

Nur wenige Wolken zogen dahin, als ein glühendes, fast loderndes Morgenrot den neuen Tag ankündigte. Gleich würde sich die Sonne zeigen und zu einem neuen Tagesgeschehen erstrahlen.

Er saß schon in der Küche. Vor ihm auf dem Tisch finden sich Stift, Papier und sein alter Taschenrechner. Er schaltete das Radio an und schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein. Flott tippte er Zahlen in seinen Rechner ein; wie zu alten Schulzeiten, als die Lehrer ihn zu mehr Aufmerksamkeit mahnten, während er träumend zusah, wie der warme Wind durch die Baumwipfel strich. 58 plus 64 geteilt durch 12. Zwölf Monate hat das Jahr, in denen viel Glück und Unglück passieren kann, ging es ihm durch den Kopf. Zwölf Apostel folgten einem Weltverbesserer mit Vollbart und Sandalen. Das hatte man ihm in seiner Schulzeit beigebracht. Zwölf Stunden zeigt seine Küchenuhr an.

Im Radio kommen die Nachrichten. Im aktuellen Krieg gibt es heute bereits 58 Tote. Der Sprecher berichtet von Politikern und deren wohlabgewägten Aussagen. Immer noch zweigen sich Minister Millionenbeträge ab, immer noch müssen Kinder auf der Welt verhungern.

Er trinkt einen Schluck Wasser aus seinem Glas. Es ist frisch wie der Morgentau, köstlich labend, wie Wasser eben so ist. Doch Wasser ist nicht gleich Wasser – und die Menschen gehen oft verschwenderisch damit um. Er ist froh, dass die Inhaltsbeschreibung der Flasche keine Giftstoffe ausweist. Die Gifte landen dafür in anderem Wasser. Dieses fließt durch begradigte Flüsse ins Meer. Dort bekommen es die Fische ab, die wir aus dem Meer auf unsere Teller holen. Der Fisch in seiner Tiefkühltruhe kann also keine Ausnahme bilden. Er geht diesen Gedanken nicht genauer nach, sondern tippt wiederum in seinen Rechner. 287 geteilt durch 11 und daraus die Wurzel; 7,65834 ins Quadrat; der Kosinus von 128.

Einige Stunden sind nun schon vergangen. Wiederum hört er die Nachrichten. Jetzt sind es 128 Tote im aktuellen Krieg. Politiker reden von Betroffenheit. Ein Flugzeug ist abgestürzt. Ein Stahlwerk wird stillgelegt. Hunderte verlieren ihre Arbeit. Es wird gestreikt, protestiert, geredet.

Die dritte Wurzel aus 268. Der Wetterbericht kündigt Regen an, während die Sonne in seine Küche glänzt. An diesem Tag wurden bereits 17 Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Luft geblasen. 268 geteilt durch 17 und davon der Sinus. Er setzt sich einen Kaffee auf. Die Packung deklariert ihn als kolumbianische Hochlandmischung. Im kolumbianischen Hochland arbeiten also Menschen für wenig Lohn, damit er hier Kaffee trinken kann. Ein Fünftel mal ein Achtel. Der Tangens von 17 geteilt durch 12. Vielleicht ist die Gentechnik irgendwann so weit, dass Menschen Alles ohne Rechner rechnen können. Kaltes Grauen packt ihn. So kalt wie der Wind, der nun durch die sternenklare Nacht weht. 128 mal 58 geteilt durch 17 plus 4.

Der Vollmond prangt durch das Küchenfenster, während er über Innenpolitik nachdenkt und überlegt, ob er zur nächsten Wahl gehen soll. Ziemlich verdrossen tippt er eine fast unüberschaubare Bruchrechnung. Er tippt Klammern, Quadrate, Wurzeln, Brüche, er tippt und tippt. Nebenher trinkt er ein Glas Orangensaft. Dabei denkt er an Plantagen, in denen Orangen wachsen; an Frachtschiffe, die Orangen bringen; an schmutzige Kraftwerke, die Strom für Abfüllanlagen und Küchenlampen liefern. Er tippt weiter seine Quadrate, Wurzeln und Brüche; drückt letztendlich auf die Ergebnistaste. Der Rechner braucht etwas länger bei solch schweren Aufgaben.

Endlich spuckt der Rechner eine Zahl aus. Auf der Anzeige erscheint 666 als Ergebnis.

Er beendet seine Arbeit und isst ein Honigbrot.








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