„Wer will mit nach Rumänien?“ Der damalige Freund meiner Schwester wollte seinen Bruder besuchen, der dort hängenblieb. Kurz vor Ostern, im April 1996, ging es los, mit seinem alten Celica.
Nach der ungarischen Grenze war erstmal mampfen angesagt: Pizza 3 DM (mit Ketchup statt Tomate) und Cola für 50 Pfennig - daran kann man einfach nicht vorbeifahren. Viele Österreicher kamen hierher; der Service war deutschsprachig und korrekt, die Kellner trugen Fliege.
Auf der gebührenpflichtigen, nagelneuen Autobahn ging es flott voran, so fuhren wir in die Nacht.
Mit Bargeld und viel Geduld durchs Niemandsland
Der nächste Grenzübertritt war aufwändiger. Wir hielten vor einer Schranke, gaben unsere Ausweise ab. Eine Viertelstunde später, als ein Dutzend Autos wartete, kam der Zöllner an unser Auto, schlug die Pässe auf, rief den jeweiligen Vornamen und schaute wer sich meldet. Damit konnten wir Ungarn verlassen und ins Niemandsland fahren.
Dort standen wir lange. Wegen Straßenschäden wurden beide Richtungen auf einer Seite abgewickelt, LKW rangierten, es war eng und mühsam. Nach Mitternacht, nach 14h Fahrt, waren wir bis in die Nähe des Visa-Häuschens vorgedrungen. „Visum 50 DM“ stand auf dem handgeschriebenen Zettel an der Bretterbude. Keine Lej, keine Forint, ohne Quittung - gegen Cash bekamen wir einen Stempel in den Reisepass. Zöllner klapperten die Autos ab. Kofferraum auf, die Zöllner nahmen sich vier Flaschen Bier aus dem Kasten (Eigenbedarf), alles klar Jungs. Nach Stunden im Niemandsland öffnete sich endlich, endlich, endlich die Schranke für uns. Wir waren in Rumänien!
Die Straße bestand mehr aus Löchern als aus Fahrbahn. Man musste pfiffig über alle Spuren eiern, doch irgendwann ging auch das. Es ging hier immerhin um Löcher, teils groß genug für das ganze Auto.
Am Morgen erreichten wir Timișoara, vormals Temeschwar oder Temeschburg. Es war eine schöne Stadt im Banat, in den im Mittelalter viele deutsche Siedler kamen. Deutsch waren nur noch die Trambahnen und deren Werbebanner. Bei uns ausrangiert, fuhren sie hier weiter. Die Altbaufassaden verrieten wie schön es früher hier aussah. Doch nun waren sie dunkelbraun verfärbt, bröselig, vieles baufällig.
Marcus fand die Wohnung und parkte zur Sicherheit im Innenhof. Die Familie des Luftwaffengenerals empfing uns sehr herzlich und gab uns Frühstück. Marcus‘ Bruder war mit ihrer Tochter zusammen, wohnte hier und übersetzte. Nichts in der Wohnung deutete auf eine gehobene Stellung beim Militär hin. Frühstück heißt viel Weißbrot, Käse, Wurst, Eier. Der Kaffee war überall gut, lehnte sich an italienische Zubereitungsmethoden an. Danach trinkt man einen Schnaps, so ist das üblich. Er desinfinziert und bewahrt die Gesundheit. Wir hielten uns daran, uns fehlte nichts.
Mangels Platz wurden wir im Hotel einquartiert. Zeit zu schlafen und sich umzusehen. Tagsüber wurde es richtig warm. Architektonisch gehört die Stadt zu Mitteleuropa, war ein Schmuckstück, viele Häuser sind noch in sog. „Schönbrunner Gelb“, in Anlehnung an Wien als großes Vorbild. Dazwischen findet sich immer wieder eine neue Basilika - Rumänen sind orthodox. Sonnenbrille ist wichtig, Frauen in Petticoats und kurzen Röcken erinnern an alte italienische Filme. Dazwischen liefen Roma und Straßenkinder, schnorrten Kleingeld. Rumänen raten sie zu ignorieren. Doch für ein Foto muss man eben stehenbleiben. Gibt man Geld, bleiben sie, denn man hat ja mehr. Es dauerte eine Weile, bis wir die ständige Bettelei zumindest halbwegs ignorieren konnten. Allen zu helfen ist leider schlicht unmöglich.
Am Eck standen zwei Polizisten, mit kugelsicherer Weste, MPi umgehängt, und natürlich Sonnenbrille.
Schönbrunner Gelb |
Piața Unirii |
Eingekauft wurde auf dem Markt. An überdachten Tischreihen aus Beton breiteten Bauern ihre Ware am Markttag aus.
Es herrschte reger Betrieb, man schob sich durch die Reihen und verglich. Ich hörte ein Rufen und sah nicht gleich woher es kam. Am Boden stakte ein Romamädchen auf allen Vieren. Der Anblick erschreckte uns. Systematisch hatten ihr die Eltern Arme und Beine gebrochen. Ihre Füße schauten nach vorne, die Ellenbogen nach aussen, also genau verkehrt herum. So konnte sie auf allen Vieren gehen - und zwar nur so -, sah mitleiderregend aus und konnte besser betteln. Für Humanisten wie uns ein Gräuel, wie man Kindern so etwas Grausames antun kann.
Supermärkte waren selten und teuer, doch wir fanden einen. Zwei Türsteher wachten davor, in schwarzen Anzügen und, natürlich: Sonnenbrille. Drinnen gab es deutsche und griechische Importware in einem Eckladen, groß wie eine Bäckerei bei uns.
Der Drogenhandel im Café läuft (wie) geschmiert
Wir gingen Kaffee trinken, im vornehmen Opera Café. Das einzige in das man gehen kann, sagte man uns. Es gab guten Kaffee oder einheimisches Bier nach deutscher Brauart, im Halbliterglas („O Bere Halba“). Ein Wachmann ging herum und sah nach dem Rechten.
Zwei Tische weiter saß eine Romafamilie. Vater gab der zehnköpfigen Familie eine Runde Sahnetorte aus (für Rumänen kaum erschwinglich). Vater stolzierte um die Tafel, seine Gabel fiel zu Boden. Er ließ sich eine neue bringen. Sein Bauchumfang war beachtlich; er und seine Frau hatten außerdem ein „goldenes Lachen“, also mehrere Goldzähne.
Ein Typ mit Tasche kam rein, der Wachmann sah mal an den Plätzen im Freien nach dem Rechten. Der Typ setzte sich zu fünf Männern an den Tisch, packte aus, Tüten kreisten, sie drückten und rochen an den Tüten mit etwa einem Kilo weißen Inhalts. Der Wachmann hatte draußen alles im Blick. Zehn Minuten später war der Handel vorbei, der Typ packte die Reste und ging. Der Wachmann schlenderte wieder ins Innere.
So warm es tagsüber war, so kühl wurde es abends. Im geheizten Eingangsbereich unseres Hotels saßen etwa zehn Leute in der „Wärmestube“.
Zum Frühstück sahen wir durch die offene Tür die Dame der Telefonzentrale Kabel von Hand umstecken, um Telefonate weiterzuleiten. Leider schloss sich die Tür, bevor wir die Knipse holen konnten.
Überhaupt war ich vorsichtig mit fotografieren. Man outet sich als reicher Tourist, ist abgelenkt, der Griff in die Tasche wird erleichtert. So entging mir leider auch der Parklplatzeinweiser, schwarzhaarig mit rechtem Seitenscheitel, „Bärtchen“ und hektischem Gefuchtel á la „du parrrrkst hierrr rein“. Keiner interessierte sich für ihn.
Rumän.-orthodoxe Kathedrale der drei Hierarchien |
Zeitreise aufs Land
Wir waren unterwegs aufs Land, Verwandtenbesuch. An einer kleinen Autowerkstatt hielten wir, der Celica verlor langsam Öl - ein Tribut an die Schlagloch-Rally. Ein alter Mann kramte in seinem Vorrat aus altem Brauchbaren, bastelte irgendetwas herum, machte einen wirren Eindruck. Als er das Kennzeichen sah, freute er sich und meinte in etwa: „Ihr Deitschn hebbt und nit vergesse!“ Donauschwaben bildeten bis 1944 die größte Volksgruppe der Stadt und eine große im sog. „Banat“.
Als wir das Dorf erreichten, waren wir ganz weit auf dem Land. Alle Wege waren ungeteert, man wirbelte viel Staub auf. Die Häuser hatten teils strohgedeckte Dächer, Putz bröckelte, mancher Giebel hing durch. Hühner, Hunde und alte Frauen im Kittel waren unterwegs. Trinkwasser kam aus dem Brunnen im Garten. Im Haus gab es nicht viel: Küche, Esstisch, Plastiktischdecke, Licht, Radio. Die Wände waren blaugrau gestrichen. Für uns war es wie eine Zeitreise, obwohl wir gerade mal eine knappe Stunde unterwegs waren. Die meisten Jungen waren abgewandert. Doch die Alten waren glücklich, kannten es ja nicht anders. Ich verschenkte spontan meinen Rasierer mit Klingen, nachdem das dort wohl Mangelware war und große Begeisterung auslöste. Einer der Alten fing gleich an mit der Rasur.
Zurück in der Stadt war unser Bierkasten schon leer. Am ersten Abend kamen Luftwaffen-Kollegen, machten sich einen gemütlichen Abend. Wenn einer etwas hatte, wurde geteilt.
Ausflug nach Transilvanien
Tags darauf brachen wir auf nach Cluj-Napoca (sprich: Kluhsch), in Transilvanien (Klausenburg, in Siebenbürgen). Die Fahrt dauerte etwa vier Stunden (wir mussten also übernachten), ging meist über vierspurige Straße - zwei Spuren pro Richtung. Heißt praktisch: Man nutzte drei von vier Spuren, um trotz Schlaglöcher Tempo 100 zu halten. An einer Raststätte hielten wir. Neben der Straße war eine Meile mit etwa zehn Holzhäuschen, in denen gegrillt wurde. Viele LKW hielten hier.
Raststätte |
Grill-Häuschen an der Raststätte |
Cluj zeigte sich als stolze, herausgeputzte Stadt. Die Fassaden renoviert, geteerte Straßen ohne Löcher, keine Roma in den Straßen (sie waren an den Stadtrand verbannt). Junge Leute liefen in Jeans, Turnschuhen, Jeansjacken und ohne Sonnenbrille (!) herum, sprachen meist ungarisch. Vom sogenannten Szeklerland, im Zentrum Rumäniens, bis zur ungarischen Grenze, bilden sie eine große Minderheit. Neben orthodox sind viele Kirchen hier katholisch, die Türme erinnerten an Nürnberg oder Österreich. Siebenbürgen war auch von Deutschen besiedelt, ehe sie ab den 1970ern erleichtert ausreisen konnten. In einem Musikladen deckten wir uns mit Musikkassetten ein. Es gab alle angesagten Rockalben, als Graukopien auf Band, für umgerechnet 3 bis 5 DM.
Am nächsten Morgen ging es zurück, nach einer Zeit in Timișoara auch wieder heim. Im letzten Ort vor der Grenze war Stau. Ein Romajunge putzte unsere Windschutzscheibe. Ihm gaben wir unsere letzten Lej, er freute sich riesig. Da er nicht bettelte, gaben wir sie gern.
Zur Ehrenrettung muss ich anmerken, dass viele Romastämme das Betteln ablehnen und arbeiten wollen, das aber oft nicht dürfen. Die systematische Ausgrenzug der Roma (wie heute in Ungarn) verhindert natürlich eine Integration und löst keine Probleme.
Nach dem Niemandsland mussten wir in Ungarn einreisen. Vor der Schranke blieben wir stehen, mit zwei Dutzend anderer Autos. Die Zöllner rollten Bänke an, um unser Gepäck öffnen zu können. Spürhunde wurden herumgeführt. Wir sollten die Fenster runterkurbeln, die Türen wurden abgeklopft, ein Spiegel unter den Motorraum geschoben. Unsere Pässe wurden zuvor eingesammelt. Hier verläuft die sogenannte „Westroute“ für Menschen- und Drogenhandel. Offenbar machten sie das erfolgreich, die Österreicher winkten uns durch.
Für mich endete eine weitere unglaubliche Reise, auf der ich interessante Städte und herzliche Menschen kennenlernen durfte, und ein Land im Wandel sehen konnte.
Man darf nicht vergessen, dass das Land das schwere Erbe einer Diktatur anzutreten hatte und bis heute mit vielen Folgen zu kämpfen hat. Ich begrüße den Beitritt zur EU, wünsche dem Land eine kraftvolle Entwicklung und freue mich, eines Tages den Wandel sehen und das Land wieder besuchen zu können.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen