Sonntag, 28. Oktober 2012

Retro-Reisebericht Bosnien 1999






„Ja klar komm‘ ich mit“, meinte Hans. Ich auch. Weiter dachten wir nicht. Das war auch gut so. Übers Wochenende nach Bosnien-Herzegowina, Banja Luka, mit der Innenansicht einer bosnisch-serbischen Familie? Diese Gelegenheit kam nie wieder.
Dalibor wollte 3 Wochen später sein kleines Kind dort taufen lassen, und alles dafür vorbereiten, delegieren, in die Wege leiten.
Was für ein harter Ritt es werden würde, und welche Eindrücke auf uns warteten, war uns in keinster Weise bewusst. Also los!


Dalibor hatte ein Mietauto gefunden, von einer kleinen deutsch-türkischen Klitsche. Alle großen Vermieter winkten ab - der Versicherungsschutz griff nicht. Zu riskant. Und mein Fiat Uno war schon zu klapprig.
Freitag um 17 Uhr, nach der Arbeit, ging es los, im Oktober 1999. Keine Vorkommnisse in Österreich. In Slowenien fuhren wir in die Dunkelheit. Das Radio schickte uns Power-Rock, das fanden wir sehr sympathisch.
An der kroatischen Grenze waren wir schon eingenickt, mussten aber aussteigen. Der Zöllner fragte uns irgendwas, wir sagten auf serbisch „guten Abend“ [dobro vezer]. Er fragte auf deutsch „Gaspistole?“, wir verneinten erstaunt. Dalibor quasselte irgendwas auf serbokroatisch. Nach einer kurzen Durchsuchung konnten wir weiterfahren.
Was war das? Dalibor meinte nur, er hätte ihm erklärt, dass wir 2 deutsche Junkies wären (Hans war Österreicher, Anm.d.Verf.), womit für den Zoll alles klar war. Wir brauchten eine Weile, bis wir seinen trockenen Humor verstanden (was an der Uhrzeit lag). Dass der Kosovo noch brannte, und Waffenschmuggel unterbunden werden sollte - daran dachten wir in dem Moment nicht.

Er fuhr uns durch die Krajina, was eine beklemmende Erfahrung war. Eine Kleinstadt bestand mehr aus Dunkelheit als aus Lichtern. Das lag nicht an der Uhrzeit, sondern daran, dass entweder Bewohner, oder ganze Häuser fehlten. Die Krajina war das serbische Siedlungsgebiet in Kroatien, und Zündschnur ins Pulverfass. Nach der kroatischen Unabhängigkeit waren die Krajina-Serben eine Minderheit, in der es rumorte. Ihre Armee war am Ausbruch der Kette von Bürgerkriegen beteiligt. 1995 wurde sie vom kroatischen Militär geräumt, die Bewohner flohen in den serbischen Teil Bosniens, der sogenannten „Republika Srpska“. 





Wir fuhren durch Städte und Dörfer, die halb Geisterort, halb von Zugezogenen bevölkert waren, die verlassene Häuser bezogen hatten. Gegen drei Uhr Früh kam die Grenze, ein gutgelaunter bosnischer Zöllner war zum scherzen bereit, jedoch machten Dalibors Papiere Probleme. Er käme evtl. nicht zurück, meinte er (einmaliger Eintritt, ohne Austritt, oder so ännlich - ein Fehler des Konsulats). So kurz vor dem Ziel umdrehen? Er fuhr weiter. Links und rechts der Straße waren junge Leute unterwegs, wollten per Anhalter zur nächsten Feier oder sonstwohin. Was ging ab?
Gegen fünf waren wir endlich, endlich, endlich da. Wir hatten die Fahrzeit (12 h!) völlig unterschätzt und waren hundemüde. Er rief per Handy an, damit seine Eltern uns reinließen. Ein Wunder dass jemand öffnete. Seine Eltern waren taub, aber sie spürten den Brummer. Sein Bruder wurde aus dem Bett geworfen, wir durften uns hinlegen und schliefen schlechten Gewissens ein.
Am Morgen sagten wir hallo, entschuldigten uns bei dem 16-jährigen auf englisch. Das wäre schon okay, kein Problem. Ich sagte einen gelernten Spruch auf serbisch auf: „ich bin ein deutsches Arschloch [ja sam nematschka schupak], sorry dafür“. Er fiel fast vom Sofa vor Lachen. Denn wer sich selbst veralbern kann, hat es hier leichter. Von diesem Moment an war alles geklärt und die Verständigung lief problemlos und total aufgetaut. 





Er führte uns auch den Tag über durch die Stadt, die von türkischen Festungsmauern geprägt war, als die Osmanen den Balkan eroberten und in der Folge bis vor Wien kamen. Ein Erdbeben in den 1960ern zerstörte viel, es blieb kaum historische Bausubstanz erhalten. Deshalb gab  es nicht wirklich viel zu sehen, Wohnzeilen von der Stange prägten das Bild, wie in jeder anderen europäischen Stadt auch. An den Kasematten, wie gesagt türkischen Ursprungs, waren 1-2 Cafés / Restaurants für Touristen mit nettem Ambiente und schönem Ausblick auf den Fluss. Wir spendierten ihm Bier, die Völkerverständigung war geritzt.
Offizielles Zahlungsmittel war die Konvertible Mark (von der ich 2 Scheine ergattern konnte), 1:1 zur D-Mark (überall in Umlauf damals). Münzen waren komplett D-Mark.

Schwarzgebrannte CDs, mit farbkopiertem Cover, gab es für 3 DM, in mehreren Läden. Auf der Straße standen junge Leute und verkauften Zigaretten. Junge Ladies liefen aufgebrezelt und hungrigen Blickes durch die Straßen. Die Quote Mädchen zu Jungs lag bei 7:1 (schon vor dem Bürgerkrieg), entsprechend putzten sie sich raus. Wir blieben beim schauen, hatten damit aber genug zu tun.
Zwischendurch kamen immer wieder britische Soldaten durch die Straßen patroulliert, mit Kampfanzug, Stahlhelm mit „Gemüse“ drauf, MPi im Anschlag. Darüber kreiste ständig ein „Apache“-Kampfhubschrauber der US-Army in der Luft. Uns konnte also nichts passieren... Natürlich blieb ein mulmiges Gefühl - und das waren nur die sichtbaren Folgen des Kriegs.

Wir kamen zur „Flaniermeile“. Ein Café reihte sich ans nächste, die Plätze im Freien waren am Nachmittag gut besetzt. Man rief Passanten zu, die gesellten sich dazu oder kamen zum hallo sagen, es war ein großes Gejohle bei ausgelassener Stimmung. Man erkannte uns bestimmt gleich als Touristen, da wir keine Muskel-Shirts trugen (sondern T-Shirts), und die Haare länger als 3mm hatten.
Es war ein warmer, sonniger Tag im Oktober, und die ganze Stadt war unterwegs. Für das „Bierfest“ waren wir allerdings zu früh. Das ist erst im November, im Freien, wenn die Brauerei ihr superleckeres „Nektar“-Bier gratis ausschenkt (das heißt wirklich so). 





Zum Abendessen waren wir wieder „daheim“. Es gab Ćevapčići, bekanntlich ein Fleischgericht, und der Tisch war voll mit Essen. Davor ein selbstgebrannter Schnaps („Palink“), dann Fleisch satt, mit Nachschlag, noch ein Schnaps, Nachschlag, usw. Erst später erfuhren wir hintenrum, dass es selten Fleisch gibt (es ist teuer). Doch für Gäste gibt es nur das Beste!
„Vater“ erzählte in Gebärdensprache, wie es zu den Einschusslöchern in den Häusern kam, und warum er nicht eingezogen wurde (er war ja taub). Mit weniger ernsten Themen wurde es eine überaus lustige und sympathische Runde. „Vater“ war sehr erzählfreudig, die Söhne kamen kaum nach mit übersetzen.

Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. Und das Feld räumen, für den Abwasch.
Nach all dem Essen (und Schnaps) brauchten wir ohnehin einen „Softdrink“, also Bier in der Kneipe.
Wir trafen Dalibors Freunde, die uns mitnahmen. Einer von ihnen konnte ein wenig englisch und übersetzte. So zogen wir von Kneipe zu Kneipe, und bekamen eine Kurzfassung übersetzt. Lieblingsbier der Jungs war Zlatko-Club aus Slowenien, also „gute Import-Ware“.
Zeit für ein paar Klischees (-> ich frage gerne nach Meinungen über andere Völker). Also:
Slowenen: machen gerne Business, halten sich aber aus politischen Fragen raus
Kroaten: sind in der Gruppe stark. Alleine, also Mann gegen Mann, fangen sie an zu jammern
Deutsche: keine Ahnung, ist zu weit weg. Läuft eher unter der Rubrik „verweichlichte Westeuropäer“.
Amerikaner: keine Kultur und weltfremd.
Russen: Sind die großen Brüder, wo die Sympathien hingehen. Immerhin teilen sie kyrillische Schrift, sind orthodox, die Sprache ist ähnlich; und einzelne Russen kämpften auf Seite der Serben.
Die serbischen Jungs: waren meist groß und kräftig, mit kurzrasierter Frisur. Sie definierten sich nicht über Nationalstolz. Wer sie beleidigte, musste sich Mann gegen Mann stellen können - sonst nahmen sie ihn nicht ernst.

Unser Dalibor stieß zu uns, wir wechselten die Kneipe. Britische Soldaten kreuzten unseren Weg.
Die Jungs waren alle in der Armee und mussten in den Krieg. Aber sie hatten niemanden erschossen (zumindest nicht wissentlich). Man ballerte über die Befestigung raus, ohne zu  schauen, zog den Kopf wieder ein, fertig.
Nur einer der Jungs, ebenfalls ein Dalibor, war bei einer Eliteeinheit. Sein Verhalten fiel uns bald auf und verunsicherte uns. Er zog die Ärmel seiner Jacke über die Hände, mal die linke, dann die rechte, als wolle er sich darin verstecken. Er war dann völlig abwesend, nicht ansprechbar, als habe er einen Flashback. Dann wachte er auf, hob das Glas zu einer Prost-Runde, um alles zu vergessen. Doch sobald sich die Runde in Einzelunterhaltungen aufteilte, begann er wieder sich in der Jacke zu verstecken, sein altes Leben abstreifen zu wollen, oder wie auch immer. Mangels Sprachkenntnissen konnten wir ihn nichts fragen. Seine Kumpels stupsten ihn immer wieder an, und nahmen ihn mit - was sollten sie sonst tun?

Während der „Apache“ über uns kreiste, gingen wir weiter in die Disco. Das war ein riesiger Komplex, zweistöckig, riesige Fläche im Freien, und voll mit Leuten. Es lief die übliche Popmusik, die Stimmung war prächtig bzw. wirkte so. Alle wollten tanzen, trinken, Spaß haben. Doch ich sah genauer hin. Wer abseits stand, zum verschnaufen etwa, hatte oft einen versteinerten oder zu Boden gesenkten Blick. Nach einer Zeit ging es weiter mit tanzen und singen. Für mich fügte sich alles zu einem stimmigen Eindruck: Man wollte den Krieg und seine Folgen vergessen, mit Gewalt.
Ich erinnerte mich, was Dalibors Bruder meinte. 1992 war das schlimmste Jahr. Nach der Unabhängigkeit war überall Krieg, man war nirgends mehr sicher. Die Krajina war die Lunte, Bosnien das Pulverfass, das hochging.
Am Ende, 1995, gab es einen langen Treck der Krajina-Serben, als Kroatien die Krajina räumte, und alle nach Banja Luka kamen. Die meisten blieben dort, ersetzten die bosniakischen Einwohner, die flüchteten oder vertrieben wurden. (Nachtrag: etwa nach dem Jahr 2000 kehrte ein großer Teil zurück nach Kroatien).
Im März 1999 wurde Belgrad von NATO-Flugzeugen bombardiert, um den Kosovo-Konflikt zu beenden. In Banja Luka hatte man kein Verständnis (die Einsätze waren weltweit umstritten), zwei mal sah ich die Formel: NATO = [Hakenkreuz] an Wände gesprüht.
In Serbien war das Milošević-Regime in seinen letzten Zügen. Im Untergrund rumorte es schon gewaltig, junge Leute sangen dagegen an. Auch Dalibors Freunde fuhren am Wochenende öfters nach Belgrad, um Konzerte und Protest zu erleben. „Big Underground“, meinten sie immer wieder.

„The Sunshine“ aus Serbien waren „Lokalmatadore“, der Hit von ihnen schlug voll ein und klingt nach Rage-Against-The-Machine:
Wer gute Nerven hat, findet hier den Clip: WARNUNG: man sieht Bilder, die mit versch. Balkan-Konflikten in Zusammenhang stehen. 

THE SUNSHINE "91 Preview":
http://www.youtube.com/watch?v=jRlHzQSMLzE
oder live von 2011:
http://www.youtube.com/watch?v=cajGU_8ZdJw

Ach ja: den Dialekt der Serben finden die bosnischen Serben drollig. Sie hören gleich die Herkunft des Sprechers.

Mit einem Urteil über den Krieg und seine Akteure halte ich mich zurück. In diesem Bericht wollte ich bewusst „nur“ die Folgen auf Betroffene schildern. Krieg ist „scheiße“ (serb. „sranje“) und hinterlässt nur Verlierer - da waren sich alle einig.

Um halb vier gingen wir essen, in eine einheimische Burger-Bude. Der Laden war voll, alle wollten die Nacht durchmachen. Wieder war es fünf, als wir ins Bett kamen. Ich hörte das Knattern des Hubschraubers.

Sonntag Morgen brauchten wir viel Kaffee zur Wiederbelebung.
Mittags gab es wieder dick Fleisch. Weniger Schnaps. Der Abschied fiel schwer (obwohl es eine „fremde“ Familie war).
Wir tankten und kauften Nektar-Bier am Kiosk, als Souvenir. Junge Leute verkauften Zigaretten, britische Soldaten patrouillierten, der Hubschrauber drehte seine Runden - alle waren wieder am Start.
Dann ging es hinaus, über flaches Land. Auf der Straße herrschte noch mehr Faustrecht als bei uns. Dalibor brachte uns über die Grenze nach Kroatien. Sein Visum machte keine Probleme. Wir sahen hübsche alte Häuser in größeren Orten, aber auch zerschossene an den Ortsrändern. Die Betonplatten der Böden standen, der Rest fehlte. Dieser Anblick zog sich bis nach Kroatien, in die Krajna. Jetzt wurde sichtbar, warum es abends dunkel in den Orten war.
Später sahen wir hübsche Holzhäuser in hügeligen Wiesen, als wäre seit Jahrhunderten nichts gewesen.
Hinter Zagreb übernahm ich, fuhr in den Abend. Sagte in Slowenien brav „dobro vezer“, in Österreich „Grüß Gott“, legte meinen deutschen bzw. Hans´ österreichischen Pass obenauf, während die Anderen schliefen, und kam so bis Deutschland. Wieder würde es fünf Uhr werden bis wir ins Bett kamen.
Nach ca. 1h Schlaf waren wir in der Arbeit, wo die Tour begann, 63 Stunden nach Abfahrt. Die Stunden wie Blei ...

Ich war voll mit Eindrücken.
Dass man übers Wochenende nicht eben mal nach Bosnien fahren kann, ist noch die einfachste Erkenntnis.
Heute staune ich über die Menge an Bier uns Schnaps. Doch die Gastfreundschaft auszuschlagen wäre eine Beleidigung.
Ohne Vorbereitung in ein ehemaliges Kriegsgebiet zu fahren, ist nicht ganz ohne. Wobei keiner mehr den Grund oder Sinn des Krieges mehr nennen konnte, es schien ihnen selbst nicht mehr begreiflich.
Die Traumatisierungen zu sehen, war beklemmend. Und doch sind es der Lebensmut und die Herzlichkeit der Menschen, die nachhallen.

Ich hatte mich zu jeder Zeit sicher und gut aufgehoben gefühlt. Das sage ich bei jedem Reisebereicht, aber es ist ehrlich. Für mich gibt es keine besseren oder schlechteren Völker - nur Menschen.

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Für Selbermacher:
bitte Unterkünfte und Transport, bzw. Versicherungsschutz für Autos recherchieren! Meines Wissens gibt es nur wenige Hotels, und die zählen zur Oberklasse, Restaurants ebenso. Am besten ein Hotel mit Restaurant suchen. Touristisch ist es also schwierig.
(Wesentlich besser sieht es in Kroatien aus - von dort kann man Tagesausflüge machen)
Bitte die Wege nicht verlassen, wegen Minengefahr!
Nach Banja Luka fährt ein Zug, von Sisak kommend.
Daran denken: im serbischen Teil schreibt man kyrillisch.

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