Sonntag, 8. Januar 2012

Fernseher



„In der Oblast Woronesch wird eine Buchweizenernte von 128.000 t erwartet, in der Oblast Belgorod ... „ So ging es seit einer Viertelstunde. Der Gesichtsausdruck des Sprechers wirkte so gelangweilt wie wir. Aber eigentlich sahen wir nicht in den Fernseher, denn wir saßen direkt neben ihm. Sascha schaltete um auf MTV, den einzig erträglichen Sender.
„Das Programm ist echt schlecht“, meinte ich.

Ich durfte an der Zeitmaschine drehen. Ganz vorsichtig bewegte ich den Knopf, aufgeregt zuckten meine Finger zurück. Und schon war ich zurück im Jahr 1995, auf einer Reise nach St Petersburg.
Mit Sascha teilte ich ein Zimmer auf dieser Klassenfahrt. Wir dösten vor uns hin, in alten, verschlissenen Sesseln, direkt neben dem Fernseher. Langsam blies er den Rauch seiner Zigarette aus, der sich allmählich zwischen nikotinvergilbten Vorhängen und kahlen Wänden verteilte, bevor er in die warme Sommernacht entwich. Nach etwa einer Stunde Dämmerung zog die Nacht herauf. Meine Armbanduhr zeigte halb eins. Auf MTV war noch Stimmung im Studio, London war drei Stunden hinterher. Wir öffneten unser polnisches Dosenbier, gute Westware, aus dem kleinen Laden um die Ecke. In ihm sahen wir nur Hotelgäste, zwischen folienverpacktem Weißbrot, englischem Wodka oder polnischem Bier. Die Schwarzhändler waren nicht mehr auf der Straße, die Kioskhäuschen an der Metro-Station geschlossen.

Tagsüber gab es viel auf der Straße zu kaufen. Großmütter streckten ihr Inventar aus, Tücher oder Wecker, für ein paar Rubel. Passanten standen mit drei Flaschen Bier herum. Kamen Polizisten, in altmodischen Uniformen, versteckten sie ihre Habe und spielten Passanten, die zum Plausch herumstanden.
Ihnen mussten die Westtouristen vorkommen wie Reisende aus einer anderen Zeit: Modisch gekleidet, Walkman in der Tasche, T-Shirts der angesagtesten Hardrockbands. Es war eine Zeitreise für beide Seiten.

Doch auch unser Zeitgefühl geriet durcheinander. Um vier Uhr nachmittags war das Licht genauso wie um zehn Uhr abends, die Sonne stand fast gleich hoch.

Ich dachte zurück an unseren heutigen Streifzug. Wir fanden eine verlassene Werkstatt, mit vier alten Drehmaschinen. Sie erzählten mir von besseren Zeiten, als sie noch liefen und täglich gepflegt wurden. Seitdem reisen sie alleine weiter durch die Zeit. Rost und Zerfall wurden ihre Begleiter.
Nebenan fanden wir einen alten Friedhof, manche Gräber waren 100 Jahre alt. Sie stammten aus Zeiten, als das Sterben noch einen anderen Stellenwert hatte. Steinerne Krähen oder Fledermäuse waren Nebendarsteller; hinter Engeln, die schmerzdurchzuckt fielen und ihre Fackel fallen ließen. Berühmte Zeitgenossen erhielten sogar eine Statue ihrer selbst.
Auf dem Gräberfeld nebenan, wesentlich jünger, sah es schlichter und funktionaler aus. Niemand hatte mehr Zeit und Muße, aus einem Grab ein Kunstwerk zu machen.

So waren wir müde zurückgekehrt, in unser Hotel Rossija auf dem Moskovska Prospekt, mit dem zerbröselten Schriftzug, Teppichen und Vorhängen aus den 50ern, Leuchtern im Sputnik-Stil, als das modern war. Auf uns wirkte es nostalgisch und gemütlich.

„Bier raus“, meinte ich und ging auf Toilette. Ich spülte zuerst, damit die Kakerlaken weg waren. Wir hatten uns an sie gewöhnt. Die Badtür schloss nicht mehr, aber sie blieben im Feuchten, in Toilette, Waschbecken und Badewanne. Von fünf bis fünf, dann konnte man wieder duschen. So einfach war das.

„Bier rein“, meinte Sascha, reichte mir eine Dose 80-Pfennig-Luxusbier. Ich zappte am Fernseher. „Die Aussichten der Textilindustrie für die kommenden Jahre ...“. Weiter. MTV ging in die Nachtschleife.
„In der Nacht ist das Programm nicht besser“, meinte er.
Draußen graute der Morgen, meine Uhr stand auf halb vier.
„Weißt Du eigentlich noch, in welche Zeit wir gehören?“, fragte ich ihn.
„Zeit wird überbewertet“, war seine ganze Antwort.
Irgendwie verstand ich.



Alle Rechte liegen beim Verfasser

Anmerkung des Verfassers:
das Stück schlummerte schon lange und wurde zum Punktum-Thema "Zeitreise" überarbeitet.

Keine Kommentare: