Donnerstag, 22. März 2012

Reisebericht St. Petersburg 2010 - revisited

St. Petersburg, 15 Jahre später: Im Mai 2010. Steffi wollte mit einer westlichen Airline fliegen, also starten wir mit Czech Air, via Prag.

Die Passkontrolle hatte den Schneid der alten Schule eingebüßt. Die Beamtin war zwar schweigsam und unfreundlich wie gehabt, interessierte sich aber mehr für Papiere und Stempel, als für mein Gesicht.
Da kein Bus zur Haltestelle fand, wollten wir Taxi fahren. „Nicht mehr als 15-20 Euro“, meinte der Reiseführer. Also hielt ich den Fahrern 15 Euro unter die Nase. Sie lachten nur und schickten mich weiter. Unter 60 Euro ging nichts. Nach einer halben Stunde blieben nur noch wenige Fahrer interessiert, aber es kamen nicht viele Touristen. Für 20 Euro landeten wir schließlich im schwarzen Wolga eines Privatmannes. Sicherheitsgurte gab es nicht. Wegen Staus auf dem Moskovski Prospekt sahen wir die andere Seite der Stadt. Statt des Denkmals der Verteidiger der Stadt, sahen wir als erstes Autobahn, Kraftwerk, Straßen mit mehr Löchern als Asphalt. Markierungen sind nur schönes Muster - auf einer dreispurigen Straße können auch vier oder fünf Autos nebeneinander fahren.

Im Hostel in der 1. Sovjetskaja bekamen wir ein kühles Getränk zur Begrüßung, Fenchel- und Waldmeisterlimonade - eine absolute Empfehlung!
Junge Leute hatten in einem verlassenen Altbau ein Hostel eingerichtet. Alle sprachen englisch (wie alle jungen Leute), es war absolut gepflegt (ohne Kakerlaken), Internet und WLAN waren selbstverständlich. Auf dem Sofa hockten ständig Freunde des Hauses, werkelten am Laptop oder schliefen. Man wusste nie, wer zum Haus gehört und wer nur herumhockte.
Nachdem wir länger als drei Werktage blieben, nämlich vier, mussten wir unser Visum registrieren. In einem kleinen Büro, im Innenhof eines Altbaus am Newski Prospekt, erledigten zwei junge Frauen den Papierkram für uns, so dass wir endlich bezahlen konnten. Wozu das Ganze gut war, konnten sie uns auch nicht erklären.

Wir besorgten unser Essen, in einem kleinen Supermarkt im Subterrain, zwei Straßen weiter des Hostels, in der 3. Sovjetskaja. Es gab vergleichbare Waren wie bei uns, zu vergleichbaren Preisen. Keine Straßenhändler mehr, keine Schwarzmarktpreise ... Ich nahm noch eine Gurke mit, kurz und krumm, die aussah wie aus einem Vorgarten. Sie war innen richtig grün und schmeckte nach Gurke! Dagegen sind unsere richtig blass und geschmacksneutral.
Da es hell und warm war, schlenderten wir an Altbaufassaden, kunstvollen Treppenaufgängen und alten Fahrzeugen vorbei. Der Wind wirbelte die dicke, dunkle Staubschicht auf. Ostalgie pur.





Die Eremitage

Am nächsten Morgen ging‘s gleich zur Eremitage. In der Früh anstellen, Tickets kaufen, rein. Bloß nicht vom Reiseführer schrecken lassen, nicht jeder komme rein.
Die Eremitage, im Winterpalast, ist eine der bedeutenden Kunstsammlungen der Welt: Raffael, Tizian, Goya, Michelangelo, El Greco, Renoir, Gauguin, Picasso, Manet, Kandinsky - und eine große Abteilung ostasiatischer und japanischer Kunst. Leo von Klenze entwarf die Neue Eremitage mit dem Atlas-Portal. Genauso sehenswert sind auch die Gänge, ausgemalt mit Verzierungen, z.B. Bäumen, von deren Äste verschiedene Fischarten und sogar Shrimps herab hängen. Die moderne Espresso-Bar im Parterre hält Stärkung bereit, man kann den ganzen Tag im Museum zubringen.

Wenn man wieder rauskommt, erkennt man die Uhrzeit nicht. Es ist hell, die Sonne steht irgendwo halb hoch - und so ist es Stunden später immer noch.

Auf dem Schlossplatz davor war Rollschuhtag. Ein alter Bus blies Tekkno aus den Lautsprechern, ein Radiosender verschenkte Fähnchen und Luftballons, Spuren waren für Rollschuhfahrer gesperrt. Das Wort „Lärmschutz“ gibt es auf russisch bestimmt nicht. Power to the people!

Der "Spaßbus", mit Tekkno in den Lautsprechern



Wir probierten Fast Food - gefüllte Blinis. Auf einen salzigen Pfannkuchen kommt Schmand, Streifen Räucherlachs, Kräuter.
Von Straßenhändlern, Bedürftigen und Obdachlosen war keine Spur mehr zu sehen. Man kaufte alles abgepackt und (wenn nötig) gekühlt im Laden. Im Vergleich zu den 90ern hatte sich das Straßenbild komplett gewandelt. Viele Russen flanierten, machten Bootstouren oder gingen essen. Die Entwicklung war beeindruckend.

Die Mündung der Newa
Tragflügelboot vor Haseninsel, mit Peter-und-Paul Kathedrale



Über der Newa, auf der Haseninsel, sind Wikinger gelandet, hatten ihre Drachenboote angebunden, Zelte aufgestellt, Lagerfeuer gemacht.
Ein schwarz-gelb gestreifter Helikopter landete regelmäßig für Ründflüge. Das Wasser glitzerte. An der Peter-und-Paul Festung kann man sich setzen und den Touristengruppen zuschauen. Die Insel war Marinestützpunkt und ist der älteste Teil der Stadt. In der Kirche liegen zahlreiche Zaren bestattet.

Das Bernsteinzimmer

Sonntags nach Puschkin fahren, vormals Zarskoe Selo, ist bestimmt gut. Dort gibt es im Katharinenpalast den Nachbau des legendären Bernsteinzimmers. Wie das geht, dazu schweigt der Reiseführer.
Die Züge fahren vom  Witebsker Bahnhof. Kassenhäuschen und Warteraum versprühen nostalgisches Flair, es geht ruhig zu. Die Ziele der Züge konnten wir entziffern: Minsk, Moskau, Kiev. Doch wie kamen wir nach Puschkin? Welcher Zug hält dort auch? Die Damen an den Kassen sahen uns nicht aus als könnten sie englisch, waren auch nicht an uns interessiert.

Wir zogen es vor, ein Taxi auszuhandeln. Für 30 Euro ging es los (den Fahrpreis macht man vorher aus, bezahlt wird erst am Fahrziel), über flaches Land, Neubaugegenden und grüne Wiesen, bis vors Schloss. Für 70 Cent kamen wir in den Schloßgarten. In das Schloss kostete extra, Einlass war nur zwei mal täglich, für je zwei Stunden. Wir warteten eine Stunde, denn die Schlange wurde länger und länger.
Immer wieder kamen Reisegruppen vorbei und nutzten den Nebeneingang. So muss man es machen.
Wir hielten einem alten Paar den Platz in der Schlange frei, sie bedankten sich ausgiebig, erzählten uns nette Sachen, die wir leider nicht verstanden. Nationalität? Deutsch, Entschuldigung. Staunen auf der anderen Seite. Was, deutsch? Und so nett?
Doch der Einlass öffnete, Alles drängte nach vorne. Eintritt zahlen, Überschuhe anziehen, Gruppen bilden oder im Schuhraum herumstehen. Immer wieder wurde ein Schwung Leute durch die Tür gelassen. Einfach mit - und wir waren in einer russischen Führung. Wir hörten zu, taten zumindest so, schauten uns interessiert um, gingen mit. Gold und Prunk trafen den russischen Geschmack. Nach dem kompletten ersten Stock ging es wieder ins Erdgeschoss. In jedem Raum waren Fotos, wie es nach dem Krieg hier aussah: Eine Ruine, von der Wehrmacht zerschossen und ausgebrannt. Endlich kam das legendäre Bernsteinzimmer. Keine Fotos, kein Video, nur schauen, solange etwas erzählt wird. Schnell weiter, die nächste Gruppe kommt gleich.
Aber wir hatten es gesehen: Das Bernsteinzimmer, bzw. den Nachbau. Es war schummrig darin, der Bernstein schluckt viel Licht, die Zeit reicht nicht, die geschnitzten Tafeln und Figuren zu bestaunen. Natürlich kaufte ich die englische Broschüre, für zuhause. Eine Stunde Anstehen und 40 Minuten Führung, für fünf Minuten vor Ort, das muss man einfach nachlesen können.

Zurück könnten wir den Zug probieren, doch wo geht‘s zum Bahnhof? Ein junger Bursche am Taxistand fuhr uns für 20 Euro, direkt ans Denkmal der Verteidiger Leningrads.
Endlich konnten wir die lebensgroßen Bronzefiguren aus der Nähe sehen. Im Untergeschoss lagen Kränze, ein ewiges Licht brannte, und theatralische Musik leierte vom Band. Doch man darf nicht vergessen, dass die Wehrmacht die Stadt fast drei Jahre lang einschloss und aushungern wollte, und etwa eine Million Menschen der Blockade zum Opfer fielen.






Wir schlenderten den Moskovski Prospekt entlang. Häuser und Torbögen sahen renoviert aus. In einem Coffeeshop machten wir Pause, abermals als die einzigen Fremden. Die jungen Leute sprachen englisch, es lief Drum‘n‘Bass Musik, zur Erholung. Gratis WLAN war selbstverständlich. Wir entzifferten schon das Meiste: Mokka, Kaputtschino, Schokolad.
Am Moskauer Platz, vor dem Haus der Sowjets, mit der riesigen Lenin-Statue, war Volksfest. Die Wasserspiele liefen auf Hochtouren, immer wieder schossen Strahlen überraschend aus den Wasserbecken. Es war Hochsommer, man ging freiwillig baden. Die Musik kaute zwar alle Klassik-Hits durch, war aber natürlich Tekkno, natürlich in voller Lautstärke.




Zurück mit der Metro. Frauen über 30 staken auf Stöckelschuhen, haben alles aus ihrer Schönheit herausgeholt, bewegen sich aber ein wenig unsicher in der neuen Zeit.
Junge Frauen, Anfang bis Mitte 20, sind schön anzuschauen, in Turnschuhen und mit Laptop unterwegs, bewegen sich flott und selbstbewusst.
Männer kleiden sich nicht viel anders als bei uns, wir sind in Europa.
Nur vereinzelt sieht man Männer im Jogginganzug. Beispielsweise beim Blick aus unserem Zimmer, als Türsteher des Lieferanteneingangs eines Geschäftes. Dort kommt es auch zur Schlägerei: Einer bekommt aufs Maul und geht zu Boden, der Andere tritt nach - alles in Zeitlupe, denn nüchtern ist keiner mehr. Nach zwei Minuten war der Spuk vorbei. Die Passanten gingen unbeeindruckt vorbei.

Uns blieb Zeit für den Tichwin-Friedhof am Newski-Kloster, Eintritt 4 Euro. Rasputin und Tschaikovski liegen hier bestattet. Es geht theatralisch zu in der Figurenwelt. Schmerzdurchzuckt geht ein Engel zu Boden und lässt die Fackel fallen, Boote fahren auf den Wellen, Falter und Fledermäuse sitzen auf Säulen, Totenköpfe überall. Steinarbeiten aus Zeiten, als Sterben noch eine andere Dimension hatte, im Kampf gegen die Verwilderung. Es regnete, wir flüchteten in die Ausstellung: Zeichnungen zeigen Ansichten der Stadt, Plastiken erzählen von der Geschichte des Friedhofs. Weiße Wände, Holzboden und klassische Musik sind der geeignete Rahmen. In Sachen Kunst sind sie wahre Meister.

Gegenüber lockt ein nagelneues Shopping-Center. Der Supermarkt bietet viel Import-Ware auf: Englische Schokolade, schottischer Whisky, finnisches Dosenbier (Letzteres 3 Euro). Auch hier gab es weder Bettler noch Straßenhändler.

Im Hostel kochten wir, Matjes gab es in jedem Laden. Die jungen Gäste machten hier meist nur Station auf einer Weltreise, wollten oft über Moskau weiter nach Asien.
Ein Klischee bewahrheitete sich beim abspülen: Man spült hier unter fließend Wasser, Verschlüsse existierten gar nicht.
Die Fernsehnachrichten berichteten von Demonstrationen gegen die Wahl in Kirgisistan. Für die Russen war das der Lacher. Erst wollten die Kirgisen einen eigenen Staat, dann sind sie zu blöd dazu. Politisch nicht korrekt, aber so denken sie.
Zwei Jungs in schwarz hockten vor einem Mini-Laptop, aus dem unaufhörlich einfache Melodien dudelten, und berieten über die Programmierung - es musste um ein Spiel gehen. Dazu löffelten sie Fischeier aus der Dose und tranken gemütlich Wodka. Die Sprache war finnisch oder estnisch. Nachts um halb vier hörten wir sie und das Laptop vor der Tür, als der Rauch ihrer Zigaretten durch unser gekipptes Fenster kroch.

Singer-Haus

Die letzten Stunden verbrachten wir im Singer-Haus am Newski-Prospekt. Eine große Buchhandlung mit kleinem Café. Bücher waren tendenziell aufwändiger gestaltet, das Cover mit Prägung, gerne einem goldenen Rahmen. Das Titelbild war auffallend oft illustratorisch hochwertig gezeichnet, es machte Spaß hier zu schmökern.
Das Café war vornehm, plüschig eingerichtet, Blick auf den Prospekt, sehr aufmerksamer und korrekter Service der alten Schule. Kaffee und Gebäck für zwei Personen: etwa 12 Euro.

Das Singer-Haus



Zur Heimreise stiegen wir am Denkmal der Verteidiger Leningrads von der Metro in den Bus. Wir hatten es vorab beobachtet, um großes Suchen zu vermeiden. In einer American-Bar am Flughafen wurden wir die letzten Rubel los. Wechselgeld: Fehlanzeige.
In Prag empfingen uns freundlich grüßende Zollbeamte. Tschechen in Trikots hingen am Kicker oder hatten Spaß mit einem Fußball. Wir waren wieder zurück - ganz tief in Westeuropa (aus russischer Sicht) - und wieder daheim in der EU.

Im Vergleich zu 1995 kam es mir vor wie ein anderes Land. Für uns gewohnter Wohlstand ist eine Segnung. Man kauft abgepackte Lebensmittel in Geschäften, mit Kühlung und Kasse am Ausgang, nicht mehr auf der Straße, an Kiosk-Häuschen oder Läden ohne Kühlanlagen.

Nachtrag: Obdachlose, Bettler und Schwarzhandel wurden laut Wikipedia aus der Innenstadt verbannt und sind am Stadtrand anzutreffen.

Die vielen Uniformierten von damals gehörten der Vergangenheit an, wir sahen fast keine. Die Zukunft gehört den Programmierern und IT-Spezialisten, unbeschränktes WLAN ist dort schon selbstverständlich.
Die kurze Zeit reichte aus, sich in Stadt und Land zu verlieben, trotz aller Schattenseiten. Doch welche Liebe ist schon frei davon?
Für die jungen Leute war es nur ein weiteres Land auf ihrer Reise. Alte Grenzen sind verschwunden, die Welt wächst zusammen.


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Für Selbermacher - so geht Visum:

1. Hotel/Hostel buchen, am besten online, und fragen ob sie Einladungen erstellen/anfordern können. Denn nur als geladener Gast darf man einreisen.
2. Ggf. dem Link des Hotels folgen, und sich z.B. bei "GetRussian" registrieren, den fälligen Betrag bezahlen - und man bekommt eine EINLADUNG
3. Das russische Konsulat in der Nähe kontaktieren, damit sie alle Unterlagen schicken.
4. Derweil den Flug buchen
5. Eine Auslandsreisekrankenversicherung abschließen
6. Die Bearbeitungsgebühr für das Konsulat einzahlen, n-i-c-h-t online, sondern sich einen Stempel der Bank geben lassen.
7. Mit Reisepass und all diesen Unterlagen zum Konsulat: Einladung, Flug -und Rückflugticket, Auslandsreisekrankenversicherung, ausgefülltem Einreiseantrag und Einzahlungsbeleg.
8. Auf das Visum warten.

und
9. wenn man länger als 3 Werktage in Russland bleibt: das Visum vor Ort bestätigen lassen. Die Büros zeigt das Hotel auf. Kostet aber nochmals.

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So geht:

Metro fahren: an der Kasse eine Münze kaufen, diese am Drehkreuz einwerfen - und U-Bahn-fahren solange man will. Es gibt auch Automaten, aber die altmodischen Fensterchen machen mehr Spatß (verstehen einen auch schneller und unkomplizierter).

Ins Museum gehen: an der Kasse die Personenzahl sagen und/oder deuten.
Z.B.: 1 Person: [jädän person]
         2 Personen [dwa person]
         3 Personen [tri person]
Bitte: [proschän]
Danke [spasiiiba]
Den Betrag am Display der Kasse ablesen.
Die meisten Museen öffnen "erst" um ca. 10 Uhr vormittags. 

Essen oder Trinken gehen: 
Schnell-Restaurants bieten z.B. nur Ofenkartoffel (erkennbar am Kartoffel-Logo), oder Blinis (bei dieser Kette auch Fotos über der Theke).
Meist ist die Karte aussen einsehbar. So sieht man auch gleich die Sprachen. 

Generell gilt: keine Sorge, St. Petersburg ist eine Touristenstadt. Und die jungen Leute können alle englisch. Am Newski Prospekt und in der Altstadt ist man auf Tourismus eingestellt.

Taxi fahren: das Fahrziel sagen, oder auf dem Stadtplan zeigen. Evtl. auch gleich das Geld zeigen, das man ausgeben will. Das erleichtert die Verhandlung.
hundert = sto
tausend = [tisitsche]
=> z.B. 300 = tri sto
Der Betrag wird vorher ausgehandelt. Bitte daran halten. Wer auf ein Taxameter vertraut, liegt leider falsch. Evtl. im Hotel fragen, was eine Fahrt kosten darf.

Sicherheit: St. Petersburg ist eine Touristenstadt, und im Zentrum kann man abends bedenkenlos ausgehen. Trotzdem habe ich z.B. meinen Geldbeutel nicht in der hinteren Hosentasche. Einfach Gelegenheiten reduzieren.


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Klangkiste:
so klingt St Petersburg (Bilder sind aus der Stadt):
(der Titel heißt in ungefähr "Flügel")

http://www.youtube.com/watch?v=aGTtIZzP4mc&feature=related

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Und so sah es 1995 dort aus:

http://wortlaterne.blogspot.de/2012/03/retro-reisebericht-st-petersburg-1995.html




Sonntag, 18. März 2012

Retro-Reisebericht: St. Petersburg 1995, Teil 2/2

Teil 2
Kinder zeichnen besser als wir, Einheimische laden uns zum trinken ein und so sieht ein Gewehrlauf von innen aus

Wir fuhren mit der Metro. Am Schalter kauft man sich eine Münze, die man vor der Rolltreppe einwirft.  Damit kann man fahren, solange man will. Die Rolltreppe fährt flott und tief nach unten. Bei uns wäre dieses Tempo bestimmt verboten. Die Stationen selbst sind sehr schön, mit großen Leuchtern, schicken Steinplatten verkleidet, golden glänzenden Schriftzügen, als „Palast des Volkes“. Die Züge waren weit weniger vornehm und elegant, es rumpelte und ratterte durch die gekippten Fenster.
Wir stiegen aus. Über der Station standen etwa ein Dutzend Kiosk-Häuschen. Dort kauft man alles Notwendige: Getränke, Nudeln, Zahnpasta, Schnaps, was auch immer. Doch heute gab es eine Aktion: Zwei Männer stapelten Kartons mit Bananen und verkauften sie über die Schachteln hinweg. Abseits der Straße standen immer wieder Leute mit drei Flaschen Bier vor sich. Man kann ja mal herumstehen und verschnaufen. Natürlich waren sie zum Kauf. Tausend Rubel war der Touristenpreis, 30 Pfennig.
Vor einem Fast-Food Restaurant, ein einheimischer Laden, stand ein Rentner vor der Tür und hielt die Hand auf. Wer Geld für schickes Fast-Food hatte, der hatte auch Geld für ihn.

Der Bus fuhr uns zum Abendessen in ein anderes Hotel. Das Essen war undefinierbar, paniert, in würziger Soße uns schmeckte gut. Außerdem hatten wir Hunger. Nur drei mal gab es Fleisch in uns bekannter Konsistenz. Das hier war faserig, wir tippten auf Ratte oder Schwan. Das andere eher etwas glitschig, das Dani, eine Kroatin, an Schlange erinnerte. Geschmeckt hatte es gut.

Mit dem Tragflügelboot ging es am nächsten Tag nach Peterhof. Die barocke Schlossanlage, 30 km westlich der Stadt, hatte Zar Peter I bis 1723 als Sommerresidenz errichten lassen. Hauptattraktion sind die Wasserspiele - Fontänen, deren Wasser in einer Art Treppe abläuft und sich als Kanal durch den Schlosspark zieht. Der Eintritt ins Schloss kostete extra, die barocke Pracht sprach nicht jeden an. Also bummelten wir durch den Park, sahen auch hier Uniformierte laufen. Bei uns wäre es hier voll mit Eisbuden und Souvenirläden, doch hier keine Spur. Immer wieder sahen wir Kinder, um die zehn Jahre alt, die sich mit Papier und Stiften ins Gras hockten und Ansichten zeichneten - viel besser als wir es je könnten. Das machen also Kinder in Russland, während sie bei uns vor der Playstation sitzen.





Zurück in der Stadt besuchten wir das Russische Museum, im Marmorpalast. Alle Fenster standen offen, kaum ein Lüftchen brachte Abkühlung durch die alten Vorhänge. In jedem Raum standen oder saßen ein bis zwei ältere Damen und passten auf. Trotz dieser ungewohnt hohen Dichte waren die Besucher noch in der Überzahl.

Doch bei diesem Wetter musste man einfach raus und durch die Straßen bummeln. Die Sonne stand schräg, aber auf dieser schiefen Bahn „eierte“ sie 20 Stunden. Ganz oben, wie wir es mittags kennen, stand sie nie.
Entlang der Kanäle lässt es sich schön flanieren. Straßen und Gassen sind voll Menschen, man folgt seiner Nase, schon ist eine Stunde verbummelt.
Zeit für eine Stärkung. Um die Auferstehungskirche gab es damals ein paar Restaurants, die damals noch rar gesät waren. Wir gingen ins Subterrain und wurden von deutscher Gemütlichkeit empfangen: Blau-weiße bemalte Kacheln, Holzmöbel, Flensburger Bier, Hering, Kartoffelsalat. Wer damals essen ging, konnte es sich leisten. Ein großes Bier kostete umgerechnet 8 DM, das Lokal hatte eine eigene Wechselstube. Nach einer Schreckminute endlich die erlösende Ansage: Wir trinken jeder ein Luxus-Bier, das macht uns nicht arm. Dann zahlen wir und gehen.

Auferstehungskirche, kurz vor Mitternacht

Lieber im Luxus-Supermarkt um die Ecke unseres Hotels nach einer Nachspeise schauen. Dazu mussten wir in den Innenhof dieser Häuser, die zur Straße hin ordentlich aussahen. Hier lag eine beeindruckende Halde aus Ziegeln, die früher in der Wand oder dem Torbogen steckten. Ein Junge hielt seine Hand auf, wir gaben ihm 800 Rubel, etwa 20 Pfennig. Er freute sich über soviel Geld. Im Laden gab es nur Luxus- und Importware: In Folie verpacktes Weißbrot, englischer Wodka, polnisches Dosenbier (Letzteres 80 Pfennig).

Tags drauf standen Eremitage und ein klassisches Konzert auf dem Programm. Flo und ich hatten aber Angst vor einem „Raumluft-Koller“, nach so viel Zeit draußen. Wir schlenderten alleine los.
Mit der Tram zur Endstation, zu Fuß zurück, oder so ähnlich. Flo wollte einen Fahrschein kaufen, was deutlich mehr Probleme machte als schwarz zu fahren. Der Fahrer gab ihm etwas wie einen Kassenzettel. Dieser wurde entwertet, indem man ihn in eine Klappe hielt, den Deckel mit fünf Nadeln schloss, und so einen Abdruck in s Papier lochte. Schwankend ging es los. Die Schlaglöcher in der Straße waren teilweise so groß, dass das Gleis sich absenkte und die Tram in bedrohliche Schräglage brachte.
Die Vororte brachten nur eintönige Wohnanlagen. Zeit auszusteigen und die nächste Metro-Station zu suchen, die laut Gratis-Plan hier sein musste. Wir fragten einen Passanten. Er sah aus, als hätte er sich seit Tagen nicht mehr gewaschen, hob kurz seinen Blick vom Boden und deutete stumm auf eine schmutzige Kuppel 20 Meter abseits der Staße. Die Station Grazhdanski Prospekt war kein „Palast des Volkes“ mehr, sondern nur eine Haltestelle. Hier stiegen Hausfrauen in einfachen Sommerkleidern zu, oder Männer in kurzer Hose oder Unterhemd. Ein Bursche wollte seine Angebetete mit einer Steige voll Gemüse beeindrucken. Die Fahrt dauerte lang, eine halbe Stunde etwa. Bei 5 Millionen Einwohnern dehnt sich eine Stadt weit aus.

Zurück im Zentrum schlenderten wir drauf los. Man musste kein Spurenleser sein, um zu erkennen, dass hier eine entgleiste Tram ihre Spur über den Asphalt bis auf den Gehsteig zog. In einer Galerie sahen wir uns Gemälde an, die zum Verkauf standen. Eines zeigte eine auslaufende Uhr, die den Strom der Zeit aufzeigt. Russland hat begnadete Künstler. An der Kasse gab es Fotos der Gemälde zum Kauf.

Zur Teepause fanden wir ganze zwei Möglichkeiten. Ein Café für Touristen, man bekam Getränke in Plastikbechern auf die Holzterrasse serviert. Das andere ein kleines Restaurant, in dem wir einfach „tschai“ bestellten.
Flo wollte Brot kaufen. Der erste Laden hatte aber nur Käse und Fisch. Alles ohne Kühlung, von der Luft konnte man ein Stück herausschneiden.
Im zweiten Laden klappte es. Er stand an der Kasse, deutete aufs Brot und bezahlte irgendwas. Mit diesem Kassenzettel durfte er nochmals anstehen. Am Ende hatte er einen kleinen Kanten Schwarzbrot, für 12 Pfennig.







Abends wollten wir Cola-Wodka trinken. Ich besorgte Cola am Kiosk-Häuschen, unsere Gläser aus dem Bad und schlich über den Gang des Hotels. Ein Russe klopfte vergebens an eine Tür, klagte mir sein Leid. Ich verstand kein Wort, bot ihm Cola an. Er nickte, hob seinen Arm und hatte eine Flasche Wodka in der Hand. Wir tranken. Sein Freund kam, in Uniform, mit MPi umgehängt. Das Gespräch war mir klar, auch ohne die Worte zu verstehen: „Was will der?“ - „Der ist okay, hat mir‘n Schluck angeboten.“
Hin und her, her und hin, „Komm mit!“ Sie kramten in ihren Taschen, ich holte zwei, drei Andere hinzu. So waren wir vier Touristen und drei Russen im Raum, sie tischten Brot, Leberwurst, Bier und Wodka auf. „Welcome to Russia!“
Der Uniformierte weckte seinen Kameraden, der besoffen vor dem Fernseher eingeschlafen war. MTV lief. Der zog zuerst seine Pistole, inspizierte sie. Danach nahm er seine MPi von der Wand, klackerte an der Sicherung, hielt den Lauf genau auf mich gerichtet. Jetzt hieß es Luft anhalten und nicht bewegen - schon gar nicht ruckartig. Mir wurde mulmig. Dann sah er in den Lauf hinein, stellte das MPi zurück an die Wand. „Hallo Jungs, wollt ihr‘n Schnaps?“ Oh ja! Im Trinkglas waren 0,1 l Wodka. Ich nippte, musste husten, trank noch einen Schluck. Gelächter. Natürlich trinkt man das auf einen Zug, ohne das Gesicht zu verziehen. Ich bekam eine Flasche Bier, als Soft-Drink.
Wir verstanden uns prächtig, redeten mit Händen und Füßen. Doch russisch kann man ohne Vorkenntnisse nicht verstehen. Das Wort „Druschba“, für Freundschaft, lernt man aber schnell.

Deutschland und Russland war eine große Freundschaft, vor etwa 200 Jahren, das ist hier präsent. Dazwischen gab es Krieg. Nun will man an die Zeiten der Freundschaft anknüpfen. 

Nach fünf Tagen und Nächten, mit zu wenig Schlaf, stand der Heimflug an. Einheimische wollten Geld tauschen, DM-Münzen gegen Dollar-Scheine. Wechselstuben nehmen nur Scheine, keine Frage.
Schweren Herzens verließen wir ein Stück Europa auf russischem Boden. Keine einzige Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Wir trafen nette und herzliche Menschen, große Kunst, bleibende Eindrücke. Wendezeiten sind immer Ausnahmezustand, doch die Menschen hier behielten ihre Würde und menschliche Größe.




München empfing uns mit 15°C und Schauerneigung. Voll Vorfreude fragten uns Leute am Flughafen, woher wir kamen, braun gebrannt oder in kurzen Hosen. Aus Russland. Redet keinen Blödsinn! Nein, das war kein Unsinn. Alles Erzählte ist wahr.

Dass sich in der Stadt mittlerweile viel geändert hat - davon erzählt der nächste Bericht.

Retro-Reisebericht: St. Petersburg 1995, Teil 1/2

Teil 1
Aeroflot spielt das Lied vom Tod und Obdachlose bedanken sich mit Handkuss

MIt 40 US-$, einer Stange Zigaretten und vielen D-Mark-Scheinen saß ich in einer Tupolev der Aeroflot, Ende Mai 1995. Herr Dietz, Vertrauenslehrer an der BOS Technik (und Reisebüro unseres Vertrauens), suchte Freiwillige für einen Ausflug nach St. Petersburg. Wir waren 20 Leute und hörten das Beruhigungsgedudel an Bord. Als die Tupolev am Rollfeld des Münchner Flughafens kurz vor Start stand, lief ein letztes Stück Musik. Nicht irgendeins, sondern: „Spiel mir das Lied vom Tod“. Aeroflot hob ab.
Eine Stunde später kam der Pilot, setzte sich zu den Passagieren, rauchte eine, sah zu wie sein Flugzeug flog.

Bei so viel Vertrauen in die Technik konnte nichts schiefgehen, also standen wir drei Stunden später zur Passkontrolle an. Einer nach dem anderen durfte antreten, stand vor der Fensterfront des Zollbeamten, der Gesicht mit Foto abglich. Ewig lange zwei Minuten dauerte das „scannen“. Ich konnte sehen, wie der geschulte Blick wanderte: Abstand der Augen, Länge der Nase, Lage und Länge der Wangen, Ohren, Kinn, Hals. Immer wieder brütete er über dem Foto, lernte mein Gesicht. Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher, ehe endlich der Stempel klackerte.






Der Flughafen machte einen imposanten Eindruck, wie auch der Moskovski Prospekt. Er beginnt am Denkmal der Verteidiger Leningrads: In einem Kreisverkehr, mit ca. 100 m Durchmesser, stehen lebensgroße Bronzefiguren, die mit Gewehr im Anschlag, Fliegermütze, Schiene oder Pflug dem Angreifer entgegenmarschieren, jeder seinen Möglichkeiten entsprechend. Eine Säule ragt hoch auf und trägt die Jahreszahlen 1941 und 1945, so lange währte der Krieg für die Russen. Kurz davor steht das alte, metallene Ortsschild „Leningrad“. Staatsgäste und Touristen fahren üblicherweise von den beiden Flughäfen Pulkova 1 und 2 hier vorbei.

Der Moskovski Prospekt ist eine frühe sowjetische Prunkmeile. Die fünfstöckigen Häuser ziehen sich die Straße entlang, thematisch verbunden durch riesige Torbögen, symbolisch getragen von Vierer-Paar Säulen-Reliefs. So wirkt die Straße einheitlich, europäisch, aufgeräumt.  Zur Straße hin sind die Fassaden ordentlich. Es ist der erste Eindruck, der zählt.
Sieht man sich die Rückseite an, fehlen Ziegel in der Wand, die auf einer Halde im Innenhof liegen. Durch vorhanglose Fenster sieht man nackte Glühbirnen, alte Resopal-Tische, Männer mit nackten Oberkörper.







Unser Hotel „Rossija“ (Russland) war im gleichen Stil erbaut, Teppiche und Vorhänge wurden seitdem wohl nicht gereinigt. Die Leuchter am Empfang waren im „Sputnik-Stil“: Metallkugeln, mit unterschiedlich langen Stangen und Glühbirnen an deren Enden, hingen von der Decke.
Auf jedem Stockwerk verwalteten Damen die Ausgabe der Zimmerschlüssel, rund um die Uhr. Nachts lagen sie auf Sofas, man weckte sie und verlangte seinen Schlüssel.

Im Fernsehen gab es vier Programme. Drei waren einheimisch, es wurden nur Berichte verlesen. Der vierte Kanal war MTV.
Ab 17 Uhr hatten wir Kakerlaken im Bad. Überall wo es feucht war, krabbelten sie herum: Waschbecken, Toilette, Badewanne. Weiter wollten sie nicht, wir konnten die Badtür offen lassen. Morgens um fünf waren sie verschwunden, man konnte sich ungestört duschen und rasieren. So einfach war das.

Wir wussten bis dahin nicht genau, wo die Stadt lag. An der Ostsee, klar. Nachmittags um fünf stand die Sonne genau vor dem offenen Fenster, es hatte 30°C bei wolkenlosem Himmel. Um 19 Uhr stand sie weiter links, um 21 Uhr noch weiter links, auf gleicher Höhe. Um Mitternacht sah man sie nur noch, wenn kein Haus davor stand. Um halb eins sank sie unter den Horizont, wich drei Stunden lang der Nacht, kam um halb vier zurück. Somit war klar, auf welcher geografischen Höhe wir uns befanden.

Moskovski Prospekt, 0 Uhr 30
Blick aus dem Zimmer, 4 Uhr morgens


Zeit die Stadt zu erkunden. Das Frühstück bestand aus Kaffee, Brötchen, Käse, Wurst oder Marmelade - damals auch im Westen noch völlig ausreichend. Mir ging es gut. Wir konnten zwar vor eins nicht einschlafen, da es viel zu warm im Zimmer war. Doch vor eins war ohnehin keine Ruhe. Die andere Hälfte der Truppe hatte Zimmer, in denen sie ab sechs Uhr von der Sonne aus dem Bett gebrannt wurden, und war entsprechend zermürbt. Wir bekamen unser Lunchpaket und hielten die Nase hinein. Oh nein, der Geruch haute uns fast um. Dicke Käse-Wurst-Brote rochen atemberaubend. Eine halbe Gurke und eine Flasche russische Cola rissen es nicht raus. Einer meinte, er schenke es einem Obdachlosen. Ja, so machen wir‘s!

Der Bus fuhr uns herum. Erster Halt war an der Newa, dem Fluss, der an seiner Mündung so breit wird, dass man sich am Meer wähnt. Im Innenhafen steht der Panzerkreuzer Aurora, dessen Schüsse den Auftakt zur Russischen Revulotion 1917 gaben. Ich hatte einem Daheimgebliebenen versprochen, einen alten Armeemantel mitzubringen. Auf dem Markt vor dem Schiff gab es diese, für den Wahnsinnspreis von 20 US-$ erstand ich einen. Währenddessen wurde ich schon gezeichnet. Der Künstler sprach hervorragend deutsch, zeichnete eine gelungene Karikatur und wollte 5 DM von mir. Darüber brauchte man damals nicht zu überlegen. Die Anderen kamen vom Schiff zurück, der Bus fuhr weiter. Ich hatte es nicht von innen gesehen.

Wir fuhren zur Isaaks-Kathedrale auf dem Nevski Prospekt, voll mit Mosaiken und Ikonen. Hinter einer Säule versteckt machten wir heimlich Fotos vom Innenraum, als die Aufpasserin nicht schaute. Die Erlaubnis zum knipsen kostete 8 US-$.

Isaaks-Kathedrale (offiziell nur mit Foto-Lizenz zu knipsen)



Der Nachmittag stand zur freien Verfügung. Wir legten uns erstmal in den Park. So langsam hatten wir das Gefühl, völlig underdressed zu sein. Wir hatten unsere Klamotten nach dem Motto gewählt, dass man uns die Devisen nicht ansieht und die Stücke auch klauen könnte. Die jungen Russen trugen schwarze Jeans, T-Shirts der angesagten Grunge-Bands, Rollerblades und Walkman.

Wenn man planlos durch eine Stadt schlendert, entdeckt man die kuriosesten Sachen. Rentner standen am Rand und boten ihre Habe an: Decken, Wecker, Tücher, Hemden. Mit beiden Händen hielten sie Textilien hoch, oder streckten sie aus. Urplötzlich verschränkten sie die Arme und standen zum Plausch zusammen. Wo war die Ware, wozu die plötzliche Änderung, und hatte das mit uns zu tun? Wir warteten am Rand und schauten was los war. Hinter uns kamen Polizisten vorbei. Als sie weiter waren, boten die Babuschkas wieder ihre Habe an. Es mag lustig wirken, hinterließ aber einen bitteren Nachgeschmack.

Auf einer Brücke sah ich einen Obdachlosen seine Hand ausstrecken. Ich ging zu ihm, schenkte ihm mein Lunchpaket - die ganze Tüte, mit Gurke und Cola. Er sah hinein, roch daran, rief mich zurück. Er schüttelte meine Hand, immer und immer wieder, ich spürte seine raue, dicke Haut, sogar ein Küsschen auf meine Hand deutete er an. Ich war froh, die Tüte los zu sein und ihn glücklich machen zu können. Was es für ihn bedeutete, werde ich wohl nie erahnen können.

Auf den Straßen liefen viele Uniformierte herum: Militar, Marine, Polizei, Miliz. Die Autos waren meist einheimischer Bauart, manchen fehlen Teile wie Kotflügel oder Tür, aber Hauptsache sie fuhren. Dazwischen sah man immer wieder deutsche Autos, 3er-Golf, Mercedes oder BMW. Bei einzelnen prangte neben dem russischen Nummernschild noch ein D-Aufkleber.


in Teil 2:
Kinder zeichnen besser als wir, Einheimische laden uns zum trinken ein und so sieht ein Gewehrlauf von innen aus

 

Sonntag, 11. März 2012

Reisebericht Färöer, Teil 3/3

Retro-Reise-Bericht: April 1998
Per Frachtschiff auf die Färöer-Inseln

Teil 3: ein Ausflug nach Suðuroy und wieder nach Hause

Tags drauf machten wir einen Ausflug nach Suðuroy, der südlichsten Insel, und etwas abgelegen von der Gruppe der anderen Inseln. Die schicke Fähre Norröna der Smyril-LIne, fährt von Tórshavn dorthin. Während der Saison fährt sie von Esbjerg, Dänemark, nonstop in 18 Stunden, bietet Restaurant und Panoramadeck, Duschen und eine breite Rampe für Fahrzeuge. In der „Sturmsaison“ pendelt sie hier. Die Fahrt dauert etwa eine Stunde, führt vorbei an Lítla Dímun, der einzig unbewohnten Insel. Wir konnten tolle Fotos von See aus machen, so wie man an jeder Ecke der Inselgruppe einsame Momente und fantastische Motive findet.


Lítla Dímun










Im Hafen dümpelten verlassene Boote ihrem Zerfall entgegen, rostige Motoren und Autowracks lagen herum. Die Berge sind schön, es gibt viel zu schauen. Hierher kommt man wegen der Vogelfelsen im Westen, wo die Klippen steil abfallen. Unaufhörlich klatscht der Atlantik an schwarz-braune Felsen, konkurriert mit dem Krächzen der verschiedenen Vogelarten.
Bloß nicht die Zeit darüber vergessen und die Rückfahrt verpassen! Auf der Norröna war es gut voll, die einzige Verbindung des Tages zur Hauptstadt ist hier viel wert.

Wenn wir nachmittags zurück in unsere Bleibe kamen, gab es meist Tee für uns. Zeit den Ausblick zu genießen, oder ein paar Zeilen für meinen Band „Graues Land“ zu schreiben.An Gastfreundschaft fehlte es nicht. Dadurch waren unsere zehn Tage schnell vorbei und die Heimfahrt stand an.

Claus hatte genug von der Schaukelei, deshalb wollten wir beim nächsten Halt in Thurso / Scrabster, Schottland, aussteigen. Die Fähre von England nach Belgien wäre dann wie Busfahren.
Da unsere Ankunft aber auf Niedrigwasser fallen würde, mussten wir den Kadett in einen Container fahren; er wurde dort festgezurrt und per Bordkran auf Deck gehoben. Nebenan fielen Eiswürfel vom Förderband in Kisten voll frischem Fisch. Gabelstapler fuhren ihn unaufhörlich ins Schiff.
Nach einer Nacht auf dem Atlantik waren wir da. Ein alter Mann mit Kleinbus wartete schon, bot Knabbereien und Getränke in einem schnuckligen Postauto einer anderen Zeit. Unser Container war abgeladen, wir warteten ewig bis endlich ein LKW kam und ihn auflud. Wir wollten unbedingt mit, der Fahrer ließ uns auf seine Schlafkabine sitzen, fuhr uns quer durchs Hafengelände, an irgendeine Rampe. Es war wie wir dachten: Keiner wusste wirklich bescheid, wir wollten irgendein Auto, was macht denn der Container da? Da soll euer Auto drin sein? Im Container war was wir vorhersagten, der Schlüssel passte, also hatten wir unser Auto zurück.









Rollender Krämerladen im Hafen von Thurso



Nach zweistündiger Fahrt schlenderten wir durch Inverness. Die Gassen waren woller Menschen, Menschen, Menschen, die es eilig hatten, überall waren Läden, Läden, Läden. Im Supermarkt gab es nichts das nicht billig war. Kauf-drei-zahl-zwei, extra Inhalt gratis, Sammelpunkte; Gelbe Hinweisstreifen hingen überall von der Decke herab. Wir waren völlig reizüberflutet. Jetzt hatten wir unseren Kulturschock, aber erst nach Verlassen der Färöer-Inseln.
Abends im Pub herrschte dichtes Gedränge. Man stand lieber als zu sitzen, wanderte herum und traf Leute. Alt traf Jung, die Stimmung war prächtig. Der Tresen wurde belagert, jeder schrie seine Bestellung. „Schrei!“, meinte eine Einheimische zu mir, „Sonst bekommst du nichts.“ Doch der Barkeeper, ganz britischer Gentleman, erkannte mich als Fremden und nahm die Bestellung auf, ganz ohne schreien.
Tags drauf in England hörten wir ungewohnte Fragen vor dem Essen: Den Fisch gedünstet oder gebacken, das Bier kühl oder temperiert?

Die nächste Überraschung war für uns, dass der Frühling einkehrte. Überall standen die Bäume in voller Blüte, die Luft war mild und duftete. Der Sommer kündigte sich an, bis nach Baden-Württemberg. Dann ging es durch den Drackenstein-Tunnel, ein paar Höhenmeter hinauf auf die Hochebene. Doch diese Meter reichten. Die Bäume waren kahl, der Frühling würde vier Wochen brauchen hier anzukommen.

Wir waren zwei Wochen unterwegs, zum Ende Europas und zurück ins Zentrum, in Schnee, Seegang und Frühjahrswärme. Für 350 DM konnten wir mit dem Frachtschiff fahren (2 Personen und 1 Auto), und hatten mehr Abenteuer und Eindrücke als bei einer teuren Reise. Plus das Gefühl, in Europa daheim zu sein. Wir waren sehr beeindruckt von den Inseln und ihren Bewohnern, von der Weitläufigkeit und Vielseitigkeit der Landschaft, die man hierzulande zu unrecht nur wenig kennt.

Mehr Fotos (auf meiner Facebook-Seite):


Claus auf Tour: (mit viiieeel mehr Reiseberichten):


Mehr Berichte über die Färöer-Inseln:

Schlußbemerkung: alle Fotos wurden rein analog gemacht und ohne Effekte digitalisiert.

Reisebericht Färöer, Teil 2/3

Retro-Reise-Bericht: April 1998
Per Frachtschiff auf die Färöer-Inseln

Teil 2: Das gibt es alles zu sehen

Das Straßennetz verbindet die Siedlungen und führt meist durch leeres Land. Hügel vulkanischen Ursprungs prägen das Landschaftsbild. Auf ihnen: Eine Handbreit Erde, darauf Heidekraut, Gras und Moos. Immer wieder ziehen Sturzbäche Furchen nach unten. Das Gestein ist vulkanischen Ursprungs, braun und luftig. Brocken, groß wie ein Kleinkind, hebt man mit links. Bäume sind Mangelware und zur Nutzung zu klein.
An ruhigen Buchten ist man allein, schaut aufs Meer und lauscht dem Brausen der Wellen,  manchmal auch deren Krachen gegen die Felsen.

Das Wetter ändert sich alle drei Minuten. Sprühender, feiner Regen, Nebel, Wolken, Wind, Sonne, Wolken, Regen, Nebel, Sonne. Ein Wetterbericht bringt hier nichts.

Besiedlung auf den Färöern geht folgendermaßen: Überall wo es flach ist, kann man Häuser bauen. Mit Ausnahme eines kleinen Ortes sind alle am Meer. Am Fuße der Berge ist etwas Flachland, dort stehen entweder rote Holzhäuser (wie in Norwegen), oder Häuschen aus schwarzem Holz mit Grasdach (wie in Island). Davor hängt Stockfisch zum Trocknen. Manchmal sieht man Hunde, Hühner oder sogar ein paar Kinder draußen spielen. Erwachsene trifft man kaum. Sie sind entweder auf See (zum fischen), oder im Haus (und schlafen).
Das letzte Gebäude vor der See ist eine Kirche, ein Holzhaus mit Türmchen obendrauf. An deren Farbe kann man die Orte auseinanderhalten.
In den wenigen Städten, also Siedlungen ab etwa 1000 Einwohnern, gibt es Geschäfte. Die Auswahl ist nicht groß, Tee und Kekse aus England, Käse und Gemüse aus Dänemark, Bier aus einheimischer Produktion. Es geht gemächlich zu.



in Tórshavn




Tórshavn ist Hauptstadt, mit 12.000 Einwohnern die Metropole und Mittelpunkt des kulturellen Lebens. Hier gibt es ein halbes Dutzend Restaurants, eine Disko und eine Kneipe, das Café Natur. Innen schick aus Holz, mit Scharz-Weiß-Photographien an der Wand und moderner Musik. Getränke und Gebäck sind sehr gut, wie fast überall in Europa, die Preise darüber (etwa 4 EUR für Kaffee, 6 EUR für Bier).
Beim Stadtbummel entdeckt man große Anwesen, mit einem Portal aus zwei riesigen Walroßzähnen, enge Gassen, Sparkassen und Reisebüros.
Als die Holzhäuser größer und sauberer wurden, auf der Halbinsel Tinganes, lasen wir an den Klingelschildern Namen wie Gesundheits- oder Innenministerium. Wir waren also im Regierungsviertel, nirgends Sicherheitskräfte, wir könnten klingeln und den Ministern an den Kragen gehen.
Wir verhielten uns ruhig und unauffällig, nicht dass es noch hieß „Ausländer raus, und zwar alle beide“, so unser Running-Gag.
Ein paar Straßen weiter kamen wir an der Polizei vorbei. Öffnungszeiten: Täglich 7-23 Uhr. Wer einbrechen will, weiß seine Zeiten. Das Folgeproblem: Man muss dann die Inseln verlassen. Das ist ein ganz anderes Problem.

Der Flughafen hat mit der Hauptstadt nichts zu tun, liegt auf einer anderen Insel. Für eine Startbahn braucht man etwa 3 km flaches Gelände. Solches findet sich auf der Insel Vágar, westlich von Vestmanna. Wir unternahmen einen Ausflug zu Fuß, per Pendelfähre hinüber, eine Stunde querfeldein. Ganze drei mal hörten wir Düsenlärm, immer näher kommend, bis urplötzlich ein Flugzeug zwischen den Hügeln auftauchte.
Das Flughafengebäude besteht aus einer großen hölzernen Halle: Links Eingang, rechts raus zum Rollfeld. Dazwischen: Kurze Warteschlangen, wenig Personal, Souvenirläden mit Wollpullis und eine Imbissbude. Nichts für Sicherheitsfanatiker.
Zurück nahmen wir die billigere der beiden Busverbindungen: Bis zum Fährhafen und zu Fuß auf die Fähre nach Vestmanna. Bei der teureren bleibt man im Bus sitzen, fährt dann gleich weiter nach Torshavn. Nachtrag: Inzwischen gibt es einen Tunnel zwischen den Inseln, der Fährbetrieb wurde eingestellt.








Es hatte geschneit!
Wir fuhren über die Hauptinsel Streymoy. Ein einsamer Hof stand im Schnee, ohne erkennbare Zufahrt. Wo es gefällt, hält man für Fotos. Aus einem Abgrund stieg Dunst auf, braungrüne Hügel, mit Schnee überzogen, zogen sich die Küste entlang. Motive allerorten!
Schnee bleibt hier nicht lange liegen, und es gab auch warme Tage. Zeit zum wandern und die Tierwelt entdecken. Der Weg zu einem Vogelfelsen führt über Weideland. Schafe folgten uns und wurden mehr. Wenn man nur entschlossen genug wirkt, wird man als Anführer wahrgenommen. Und so folgten uns bald 20 Schafe, teils mit glatter Wolle („Heidschnucken“), teils zottelig, verwaschen und mit Hörnern (von uns „Wikingerschafe“ genannt).

"Wenn man nur entschlossen genug auftritt, folgen einem die Schafe"

So sieht der Himmel aus, für Ornithologen





Am Geschrei war klar, dass die Steilklippe voll von Vögeln war. Jeder Vorsprung wird genutzt - auf einer Steilwand sind Vögel natürlich unter sich. Das Flattern und Piepen kannte kein Ende, für jeden Vogelbeobachter ist hier der Himmel. Doch ohne Fernglas und Grundkenntnisse wiederholte sich für uns bald alles. Also marschierten wir unerschrocken zurück, mit unserer Schafherde im Schlepptau.
Zur Nachbarinsel Eysturoy spannt sich eine große Brücke, Tankstellen gibt es genug. Zur Insel Borðoy ging es mit der Pendelfähre, Überfahrt 15 Minuten. Klaksvik, mit 5000 Einwohnern zweitgrößte Stadt, ist Zentrum der Fischerei, entsprechend sind die Geschäfte ausgelegt. Cafés und Gaststätten fanden wir nicht, immerhin gab es eine Pommes-Bude.
Nachtrag: Seit 2006 gibt es auch hierher einen Tunnel.




"Das letzte Haus vor der See ist meist eine Kirche"



Zwei Stunden später wäre Kaffee gut. Wir spazierten durch einen Ort, in dem der Prospekt uns ein Café versprach. Wir standen vor dem Haus und verglichen es mit dem Foto. Die Straße davor, Berge und Bucht dahinter, die Terrasse - das war es. Doch wo waren die Tische, Leute, wo war das Schild? Wo war hier überhaupt jemand? Das Haus war dunkel und wirkte leer. Einfach reingehen? Nein, lieber weiterfahren. So sah es hier also aus, wenn nicht Saison ist.

Radiohören ist hier, wie Fernsehschauen auch, eine Frage des Timings. Da es je nur einen Sender gibt, teilen sich die Altersgruppen die Frequenz.
Nachtrag: Seit 2007 gibt es einen privaten TV-Sender.
Auf der Heimfahrt, kurz vor Vestmanna, nahmen wir eine jugendliche Anhalterin mit. Nachdem ihr das englische Wort für „geradeaus“ nicht einfiel, sagte sie es auf färingisch: „gradaus“.

In Teil 3:  ein Ausflug nach Suðuroy und wieder nach Hause