Sonntag, 8. April 2012

Retro Reisebericht: Irland 1994

Ein mal um die grüne Insel

Im Rekordsommer 1994, als es Gleise verbog und Gewässer sich den 30°C näherten, beschlossen wir nach Irland zu flüchten, und unser BaFöG in Bildung zu investieren. Ein mal rundum sollte es gehen.





So stieg ich Anfang August mit Markus und Flo am Dubliner Flughagen in den Linienbus. Natürlich haben Haltestellen hier keine Namen. Also fragten wir einen Einheimischen, ob er uns zur Mountjoy Street bescheid geben konnte. „Hä? Wohin?“ Okay, man darf nicht so deutlich sprechen: „Maundtschoi striet“. „Wohin?“ Okay, nuscheln: „manschoysriet“. „Ah, Mountjoy street! Yeah, I tell ye.“
Auf der Straße wiederholte sich das Spiel mit einem Schutzmann (natürlich unbewaffnet), der uns ebenfalls erst im dritten Anlauf verstand. In der Jugendherberge in der Mountjoy Street gingen die Sprachprobleme weiter. Der Lautsprecher rief Leute und Zimmernummern aus. Wir verstanden immer „Contraception please“ (anstatt „come to reception“).



Dublin müsste eine moderne Stadt werden, so viele Baustellen wie es gab. Viele Gebäude waren dreckig, ramponiert, baufällig. Warenhäuser und sogar Kirchen standen zum Verkauf. In der Fußgängerzone war die Gelegenheit günstig, mit dem Rauchen anzufangen. Junge Leute boten Tabak an, wollten etwas dazuverdienen. Die Autos in den Straßen waren hauptsächlich asiatischer Produktion, Nobelkarossen waren kaum zu sehen. Ab 16 Uhr war Betrieb in den Pubs - auf dem Heimweg konnte man schon das erste Guinness trinken. Dublin wirkte wie eine Kleinstadt, trotz einer Million Einwohnern im Großraum. Wir spielten Nationaltitäten raten. Lange Hose, kurzes Oberteil: Deutsche (da es angenehm mild war). Hawaii-Hemd und Bermuda-Shorts: Amerikaner (weil sie in Urlaub waren). Dicker Pulli oder Jacke: Iren (weil es kalt war). Volltreffer.



Am Trinity College, wo das berühmte Book-of-Kells zu sehen ist, schreckte uns die Warteschlange, am Guinness-Stammhaus der Eintrittspreis. Wir sahen uns lieber Kunst an, im Irish Museum of Modern Art, oder suchten das Künstlerviertel. Dieses fanden wir auch, in zwei abgestürzten Straßen hatten junge Leute Kunst an die Wände gebracht und ein Café eingerichtet. Nebenan war der „Music-Garden“, in dem angeblich jeden Abend ein Grunge- oder Rockkonzert stattfand. Überhaupt liefen hier alle jungen Leute in schwarz herum, mit T-Shirts ihrer Lieblings-Grunge-Band. In einem Musikladen war der Inhaber damit beschäftigt, CDs auf Tape zu kopieren, um die Kopien zu verkaufen. Hier entdeckte ich die Levellers, die hier angesagt waren - das Band gab es für etwa 4 DM.

Hier gibt es Fenster und Türen


Hier gibt es eine Kirche zum Kauf
Hier gibt es Geschäftsräume



Pub-Food ist dem englischen ähnlich, es gibt Fish‘n‘Chips, Chicken‘n‘Chips, Gemüselasagne mit Pommes, Erbsensuppe mit Pommes. Tee kommt in einer Blechkanne in verschiedenen Größen, man nennt am Eingang die Anzahl (z.B. „Tee für drei“), und ist immer lecker - vorausgesetzt man mag ihn dunkel und kräftig. Andere Sorten gibt es nicht, Zitrone zum Tee ist ein Fremdwort. H-Milch und Zucker stehen am Tisch, Kekse gibt es günstig, meist als Bruch.
Kaffee gibt es schwarz oder weiß. Schwarz = Instant-Kaffee, weiß = mit einem guten Schluck H-Milch, den der Barkeeper zusetzt. Eine Handvoll Traditions-Cafés bot „Ground-Coffee“, also Bohnenkaffee, mit einem gepflegten Stück Torte. (Vor der Zeit der Coffee-Shops).

Um neun Uhr abends wollten wir noch Tee trinken, die Bedienung musste lachen, es gab nur kalte Getränke. Also gleich zum Bier. Gleich zwei? Nein, erstmal eins, später vielleicht ein zweites. Dann war es aber zu spät, um 22:30 war Zapfenstreich.Wir wussten jetzt, warum Einheimische gleich zwei Bier auf einmal bestellen.
Wir fanden einen Club, in dem weniger Grunge, mehr Dark-Wave gespielt wurde. Dort gab es Whiskey (mit „e“), zu „Black Planet“ von den Sisters („so dark all over Europe“).
Zurück in der Jugendherberge fanden wir 2 unserer 3 Betten belegt, kein Rütteln half. Flo und ich beschlossen mit Schlafsack uns Isomatte einen ruhigen Fleck im Gang zu suchen. Dort wurden wir nachts vom Wachmann geweckt (natürlich unbewaffnet), der uns ins Gesicht leuchtete, unsere Quittungen sehen wollte und nach kurzem Gespräch weiterschlafen ließ. Zugluft durch undichte Fenster brachte Erfrischung und ließ uns wegschlummern.

Zeit den Mietwagen zu holen und Dublin zu verlassen. Ein junger Mann, in unserem Alter, in Hemd und Krawatte, schmiss den ganzen Laden. In seinem engen Schalter jonglierte er mit Ordnern, Papieren, klingelndem Telefon und wartenden Kunden.


Von Leuten die gingen, Magie die blieb und um was es bei Hunderennen wirklich geht


Die Insel ist grün und malerisch schön, im Osten noch eher flach und landwirtschaftlich geprägt. Landstraßen haben links und rechts noch eine halbe Spur. Langsame Gefährte weichen aus. Wer überholen will, zeigt das per Lichthupe, man weicht aus, so passen kurzzeitig drei Fahrzeuge auf die Fahrbahn, schwere Unfälle werden vermieden.
St. Canices Cathedral in Kilkenny ist absolut traumhaft zu besichtigen (aber analog schwer zu knipsen, wenn dunkle Wolken darüber hängen). Ein Polizist (natürlich unbewaffnet) ermahnte uns, da Markus halb auf dem Gehsteig parkte. Nein, zuhause machen wir das nicht und es war falsch von uns, wir machen es nicht wieder.

Kilkenny, St Canices Cath.
 (Foto von 2000)


Unser erster Halt war die Jugendherberge Foulksrath Castle, ja, im Turm einer alten Burg. Zimmer und Speisesaal waren im erhaltenen Teil, dem Turm, der Parkplatz bei den Mauerresten. In unserem Zimmer schlief ein Typ mit Mütze auf dem Kopf. Die Aussentemperatur von 15-20°C herrschte auch drinnen, die Fenster waren undicht.

Foulksrath Castle (Jugendherberge)


Cork ist eine nette, gepflegte Stadt im Süden, und gut zu Fuß zu erkunden. Fragt man nach dem Weg, erhält man Antworten wie: „Der Mann, der die Treppe nach unten nimmt - dem folgt ihr, dann links der Straße folgen. Dort ist ein freundlicher Mensch, der euch den weiteren Weg sagt.“ Überraschenderweise traf das exakt ein. Waren wir auf einer sagenhaften, magischen Insel? Oder nur in einer Stadt, in der ständig Leute unterwegs sind?

Sonntag Nachmittag beim Hunderennen. Jung trifft Alt, man wechselt ein paar Worte mit Jedem. Die Hunde werden herumgeführt, Zeit seine Wette abzugeben. Flo wettete 2 Pfund, gewann 2.50. Man wettet nicht ums Geld, sondern für Nervenkitzel und Unterhaltung. Überhaupt konzentrierte sich niemand auf die Hunde, es war mehr ein gemütliches Zusammenkommen.

Weiter ging es in den Südwesten. Die Halbinseln Kerry und Dingle sind atemberaubend schöne Flecken Erde und dürfen nicht fehlen. Immer wieder stehen Ruinen neben der Straße, alte Kirchen oder verlassene Höfe. Man bleibt einfach stehen und macht Fotos.



Kerry



In Kerry fanden wir ebenfalls Ruinen. Allerdings keine Kirche, sondern Wohnhäuser, fast ein Dutzend. Ein ganzes Dorf schien verlassen, wir konnten auf den eingewachsenen Mauern herumlaufen und in ehemalige Wohnzimmer und Küchen schauen. Ob das ganze Dorf nach Amerika auswanderte, wie so viele Iren?
1848 und 1849, nach verheerenden Kartoffel-Fehlernten, wanderten 1 Million Menschen aus. Allein über Cork verließen 3 Millionen Leute das Land, wenn auch in einem längeren Zeitraum. Von diesem Schwund hat sich Irland bis heute nicht erholt. In Boston und New York prägen sie ganze Stadtviertel. Amerikaner sind gern gesehen, Viele kommen zur Spurensuche nach Irland.





Am Ring of Kerry verteilen sich die Touristen, oft ist man alleine in großartiger Natur. Grüne Berge wechseln mit Wiesen, Steilklippen mit Sandstränden, bunte Häuser verströmen Gemütlichkeit in kleinen Dörfern, das Pub darf nie fehlen.

Auf einer der Spritztouren, nach Meilen auf engen Straßen, waren wir ganz weit ab. Doch unverhofft stand das Wort „Zeltplatz“ an einem Bauernhof, für drei Pfund stellten wir (das einzige mal) unser Zelt auf. Wir hatten Sonnenunter- und aufgang am Meer, umringt von grünen Hügeln, allein für uns. Am Morgen bekamen wir ein Kännchen frischer Milch. Der Alte freute sich wortkarg über Besuch.

Dingle ist eine Halbinsel nördlich davon und nicht weniger spektakulär. Man fährt am Meer entlang, auf dem Connor-Pass über die Berge, am Slea-Head-Drive um die Spitze der Halbinsel. Wenn die Abendsonne ihr Licht über Küste und Berge vergießt, braucht man nicht viel mehr zum leben. Man ist ganz weit draußen, und doch zuhause.

Hier finden sich auch sogenannte „Gaeltachts“, in denen gälische Sprache und Traditionen gepflegt werden. Sind Wegweiser und Ortsschilder landesweit zweisprachig (englisch und gälisch), fehlt hier die englische Version. Da unsere Landkarte nur englisch war, blieb uns nur Navigation nach Karte und Raten.



Dingle



Abends in einem Pub wurden wir gleich adoptiert. Hier sind noch Plätze, setzt euch dazu. Schon gehörten wir zu einer Runde von etwa 15 Leuten. Ein kleines Kind wurde herumgereicht. Jeder kümmerte sich 5-10 Minuten, machte Hoppe-Reiter und redete mit ihm, gab es dann weiter. Ein kleiner Beitrag von jedem, eine große Hilfe für die Eltern. Die beiden, die uns zur Runde einluden, waren übrigens selbst Touristen (aus Dublin), wie wir später erfuhren. Iren sind wirklich familiär, hier wird jeder aufgenommen und versorgt.

Limerick ließen wir aus, dadurch versehentlich auch die Cliffs of Moher. Im Zentrum der Insel steht der Rock of Cashel, die Ruine eines riesigen Klosters, auf einem 65m hohen Bergs, strategisch gut gelegen. Hier wechselten Könige und Bischöfe, wechselte die irische Geschichte mehrmals ihren Lauf, ehe die Anlage im 18. Jahrhundert dem Verfall preisgegeben wurde.

In Galway-Town gab es Fast-Food. Ein altes Ehepaar briet Burger auf einem heißen Blech. Sie knetete neue Bulletten, er ölte das Blech ein und briet. Am Schluss wurden die Brötchen kurz angebraten, mit Salatblatt garniert und fertig war ein knuspriger Imbiss - wahlweise auch mit Fischfilet. Das Ganze dauerte etwa 5 Minuten, die Leute warteten geduldig.
Weiter fuhren wir durch Galway, mit seinen großen, grünen Bergen, und kamen in den Donegal.
Rock of Cashel


Durch die Highlands des Donegal, über die bewachte Grenze nach Nordirland


Der Donegal, ganz im Nordwesten, besteht aus Highlands, verwandt mit den schottischen. Die Hügel strecken sich lang-, lang-, langgezogen dahin, nur von Gras und Moos bewachsen, flache Tümpel dazwischen. Die Wolken vom Atlantik hängen hier fest, wenn nicht kriecht Nebel durch die Täler. Beide Tage waren gleich: Morgens Sonne und blauer Himmel, nachmittags Wolken, ab abends Regen, die ganze Nacht. Im Hostel wurde der Kamin angemacht, damit es warm wurde. Zu Gitarrenmusik trank man Tee, so wurde es gemütlich. Auf den Zimmern war es kühl und klamm, durch undichte Fenster zog feuchte Nachtluft.


Donegal



Wir berieten, ob wir nach Nordirland wollten, da die Nachrichten von einem Anschlag berichteten. Flo kombinierte trocken: Heute Anschlag, morgen Gegenanschlag, übermorgen kommen wir. So kam es auch.

Wir folgten irischen Wegweisern und Karten Richtung Derry. Fuhren auf schwarzem Asphalt mit abgebrochenen Straßenkanten, vorbei an weiß-gekalkten Häusern, mit Reetdach und wildwachsenden Bäumen.
An der Grenze standen drei Wachtürme, der größte in der Mitte. Davor stand ein britischer Soldat in voller Ausrüstung: Uniform, Kampfstiefel, MPi umgehängt, Stahlhelm mit aufgebundenen Zweigen, dunkel bemalten Wangen. Ein Sergeant, mit grünem Barrett, warf einen tiefen Blick in jedes Auto, winkte aber durch. Nur vereinzelt wollte er Kofferräume sehen.

Auf einen Schlag waren wir in einer anderen Welt. Wir fuhren auf rotem Asphalt (in England verbreitet), die Straße war ordentlich und etwas breiter. Die Häuser aus rotem Backstein, mit getrimmtem Rasen und gepflegten Bäumen davor .
Wir umfuhren die Stadt, die in Irland immer noch „Derry“ heißt, hier aber „Londonderry“ genannt wird. Protestantische Zugezogene wollten ihre Verbundenheit zu England mit dem Zusatz „London“ ausdrücken. Die Kreisverkehre hatten Namen und gepflegte Blumenbeete in ihrer Mitte.
In der Kleinstadt Coleraine hielten wir, ich hob Geld von meinem Postsparbuch ab (Bristische Pfund). Im Kaffeehaus hing eine alte Streifentapete, mit farbiger Zierleiste zur Decke hin. Ältere Ladies wählten sorgsam ihren Kuchen und führten gepflegten Smalltalk. Es wirkte englischer als in England; schrullig, interessant und irgendwie auch gemütlich.

In vielen Gärten wehten Fahnen: Ein paar irische, ein paar Union-Jacks, meist aber die
nordirische (der englischen sehr ähnlich). In Irland sahen wir keine privaten Fahnen.
Wir ließen die Bushmills-Distillerie aus und hielten am Giants Causeway. Sechseckige Basaltsäulen unterschiedlicher Höhe ragen auf einer Zunge hinaus ins Meer, vereinzelt stehen sie auch abseits. Der Sage nach ist es der Fußabdruck des Riesen Benandonner aus dem nahen Schottland, als er vor seinem Widersacher floh.
Das Wetter war gut, sonnig und mild. Es ist die Kulisse, um in weißem Anzug und Strohhut vor einem Leuchtturm zu flanieren, bzw. solche Bilder zu malen. Die Wolken blieben ja im Donegal hängen.

Giants Causeway









In Cushendall blieben wir über Nacht. Supermärkte waren drei mal so groß. Im Hostel erwarteten uns neue Matratzen und dichte Fenster. So fiel uns das Einschlafen schwer - wir vermissten die gewohnte Zugluft.


County Antrim


Wir trauten uns nach Belfast. Vierspurig ging es auf die Stadt zu, Nord- und Südtangente zweigten ab, wir sahen Glastürme im Zentrum. Belfast wirkt großstädtisch, obwohl es deutlich weniger Einwohner als Dublin hat. Schon fuhr ein Panzerwagen der Polizei neben uns, Gummimäntel schliffen auf der Fahrbahn und verhinderten dass etwas unter das Fahrzeug rollen konnte. 
Wir hielten auf die City zu und parkten. Ein Wagen fuhr langsam vorbei. Sie schauten raus, funkten etwas. Wir sahen hinein, sahen kugelsichere Westen und Funkgeräte. Man hatte uns im Blick. Die Zwischenräume zwischen den Häusern waren mit Stacheldraht versperrt, die Scharfschützen auf den Dächern sahen wir nicht. Eine Miniatur von Big Ben stand hier, Polizei an jeder zweiten Ecke, MPi am Mann.


Polizist vor Panzerwagen

Wir wollten unser letztes Geld verjubeln. In einem Café waren Geschäftsleute zur Mittagspause. Wir legten das Geld auf den Tresen, mehr ging nicht. Irische Pfund akzeptierten sie nicht, es war „Monopoly-Money“, also Spielgeld. Es reichte für Kaffee und zwei Stück Gebäck.
Wir verließen Belfast und wenig später Nordirland. In Newry staute sich der Verkehr, wir mussten an einem Fahrzeug der Armee vorbei. Der Schütze beobachtete alle Fahrzeuge durch das Fadenkreuz auf seinem MG. Hier noch vorbei, und wir waren raus. Keine Grenze, kein Schild; die Gästehäuser trugen ein Kleeblatt-Emblem, das Ortsschild von Omeath verriet uns, dass wir zurück in der Republik waren. Durchschnaufen.




Hier sind große Megelith-Anlagen erhalten geblieben, wie etwa die Anlage von Newgrange.
Ein ruhiger Ausklang einer aufregenden Rundfahrt.

Nachtrag: Am 31. August 1994, zwei Wochen später, erklärte die IRA den (ersten) Waffenstillstand.

Wir hatten es geschafft, in zwei Wochen ein mal ganz herum zu fahren, dabei viele Facetten einer sagenhaft schönen Insel zu sehen. Die Leute waren sehr familiär und gastfreundlich, bodenständig und kunstsinnig. Trotz schlechter Wirtschaftslage hatten sie sich viel Lebensfreude bewahrt.

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