Samstag, 1. Juni 2013

LESEPROBE „Drei Tage, und keinen mehr“













LESEPROBE

„Drei Tage, und keinen mehr“
Ein Insel-Kurzroman

1
Von Weitem schon sah ich den Kirchturm von Marennes. Lang und schlank ragte er auf, weithin sichtbar im flachen Land. Gleißendes Licht umspielte ihn, ließ ihn grotesk, fast unwirklich erscheinen.
Auf mich wirkte die Szene wie eine flämische Landschaftsmalerei. Erinnerungen arrangierten sich von selbst ins Bild. So vertraut mir der Turm seit Kindertagen war, so fern wirkte er auch stets. Ich fuhr und fuhr, kam ihm aber kaum näher. Die Straße war genauso gerade wie das Land flach, und führte am Ort vorbei. Neben mir lag meine Reisetasche, mit Sachen für ein paar Tage. Drei Tage würde ich bleiben, drei Tage und keinen mehr.
Meinem Onkel Yanis das letzte Geleit zu geben war Ehrensache. Er war stets ein gut gelaunter und humorvoller Mensch gewesen. Wenn die Reden am Grab äußerst wohlwollend ausfallen würden, wäre keine davon überzogen. Er war eine echte Wohltat für sein ganzes Umfeld gewesen, entsprechend groß müsste die Trauer über seinen Abschied sein.

Mit meiner Verwandtschaft hatte ich keine Probleme, mit keinem einzigen davon. Doch Alle auf einem Haufen, das musste zwangsläufig zu Sticheleien, Diskussionen, Antipathien oder Dramen führen. So war es noch immer abgelaufen. Am liebsten wäre ich nur zur Beerdigung erschienen und nach dem Leichenschmaus abgedüst. Doch meine Anreise war einfach zu lang, und meine Eltern wären beleidigt gewesen über den kurzen Aufenthalt. Es würde also eine Mission der Zurückhaltung und des feinen Austarierens werden müssen.

Der Turm stand immer noch übermächtig in der Landschaft, als wäre ich ihm nicht näher gekommen. Ich hatte vergessen, wie lange sich die Umfahrung von Marennes hinzog. Für mich war er die Landmarke; ich betrat die Region meines Aufwachsens. Lustige Spiele mit den Kindern, der erste Kuss, Saufereien und Abstürze, und Maria, meine große unerfüllte Liebe. Du meine Güte! Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen! Das merkte ich auch daran, dass alle anderen Fahrer mit Sonnenbrille unterwegs waren. Denn im Norden, wo ich Arbeit gefunden hatte, braucht man sie nur für wenige Tage im Hochsommer, wenn kein Atlantik-Tief gegen die Festlandswärme ankommt.
Kurze Zeit ging es durch ein Waldstück, eigentlich nur ein Stück Erde mit Laubbäumen drauf – was man hier unter Wald versteht. Die Leute im Norden können darüber nur müde lächeln – und ich werde immer mehr wie sie. Ich esse viele Fritten und Würstchen, hänge abends in schummrigen Kneipen zum Bier ab, oder spickere mit den Kumpels. Für mich waren Austern, Muscheln, Tintenfisch, feine Soßen und gute Dessertweine seitdem vergessen.
Die Bäume endeten und ich sah den Turm zur Linken. Kaum zu glauben dass es voranging. Das Ende des Festlandes kam näher, es roch schon nach Bracke und salziger Luft. Bald kamen die Verkaufsbuden der Austernzüchter in Sichtweite. An der Straße lockten Holzstände vor den Becken zum Kauf der Muscheln. Es war eine große Durchgangsstraße, die einzige die auf die und von der Insel führt, entsprechend groß waren hier die Verkaufschancen. Dort standen schon Autos der späten Touristen, auch zwei Kleinlaster, die frische Ware abholten. Nur noch drei Kilometer zur Brücke, zwei bis zum letzten Rasthaus auf dem Festland. Ich ging vom Gas und steuerte es an.
Natürlich würde es zuhause Kaffee geben. Doch vor dem ersten Schluck würde mich die in der elterlichen Stube versammelte Verwandtschaft sehen und mit mir reden wollen. Erst dann würde es Kuchen geben, mit hundert Fragen. Bis zum ersten Schluck würde es sich ganz schön ziehen. Das Rasthaus war wohl meine letzte Station in Anonymität. Ich genoss die späte Augustsonne auf der Rasthaus-Terrasse.

2
Die besten Früchte hatte es immer zehn Meter vom Einlass gegeben. Kleine Jungs liefen gleich ganz nach hinten, kleine Mädchen gingen links und rechts zum Zaun, Hausfrauen blieben in der Mitte. Den Anfang des Feldes hakte Jeder schon ab, deshalb wurde ich dort immer fündig. Reif und rot hingen sie vor mir, ich brauchte nur zuzugreifen. Es war mehr ein Akt der Nostalgie denn der Notwendigkeit, verschaffte mir aber eine Verschnaufpause.

Eigentlich sollte ich im Haus meiner Eltern sein, doch dort ging es gerade hoch her, die Verwandtschaft war am diskutieren. Es waren, wie immer, alte Themen und Schuldzuweisungen. Darauf hatte ich gar nicht erst eingehen wollen. Mich hatte diese schlechte Laune gewaltig genervt, aber ich hatte nichts dagegen tun können. Oma Zoé hatte zur Abkühlung Eiskrem mit Himbeeren vorgeschlagen – das war meine Chance gewesen rauszukommen.
Da es ein Werktag war, blieb es auf dem Himbeerfeld überschaubar. Die alten Haussmanns radelten grüßend vorbei, eine reife Dame erkundigte sich nach meinen Erfolgen. Es war wohl ein Annäherungsversuch. Ich zeigte ihr den Inhalt meiner Schüssel, sie wünschte mir noch viel Erfolg und ging zur Kasse. Die Himbeeren in Bodennähe interessierten mich ohnehin viel mehr, also watschelte ich in der Hocke ein paar Schritte auf und ab. Meine Schüssel füllte sich – auch mit Erinnerungen. Unbeschwerte Tage auf der Insel, blauer Himmel, ein paar weiße Wölkchen wie hingemalt, warmer Wind, nachmittags zum Pflücken, für frischen Kuchen, keine Gedanken an die Schule oder gar das nächste Zeugnis. Ich hatte nur Musik und hübsche Mädchen im Sinn und das Leben fühlte sich so leicht an. Doch war damals wirklich Alles so rosig? Versteht ein Mensch, dass er gerade sorgenfrei lebt, oder braucht er ein gewisses Maß an Zweifeln? Bin ich gut genug für die nächste Schulprüfung, hält mich die So-und-so für attraktiv? Hach, ich wurde richtig sentimental bei den Gedanken an früher.
Natürlich war nicht alles rosig gewesen, auch wenn ich es rückblickend so sah. Ich war unglücklich verliebt in Maria gewesen, und damals hatte ich es als mein Ende empfunden. Heute konnte ich darüber nur schmunzeln. Ich hätte gar nicht mehr gewusst, wie sie aussah. Würde sie mir heute über den Weg laufen, würde ich sie wiedererkennen? Die Gedanken daran vergnügten mich, also ließ ich sie über die ebene Insel schweifen.

Zu bestimmten Anlässen hatten mich meine Eltern mit in die Kirche genommen. Dort hatte ich Maria öfters sehen können. Sie war hell gekleidet gewesen, hatte zuversichtlich nach vorne gesehen und hatte ihren hübschen Kopf oft zu mir gedreht. Zum Dahinschmachten! Ich ertappte mich beim Grinsen. Natürlich war die Familie anschließend zügig nach Hause gegangen. Wie sollte ich da jemals „Hallo“ sagen können? Aber ich hatte sie noch öfter gesehen, sonst hätte es ja nicht so lange angehalten.
In der Frühe, an der Bushaltestelle, hatte ich sie oft gesehen. Sie war natürlich nicht an „meiner“ Seite gestanden, sondern schräg gegenüber. Sollte ich einfach über die Straße laufen und sie ansprechen, während alle Wartenden zusahen? Und darüber womöglich meinen Bus verpassen? Nie zuvor hatte ich geahnt, wie schwer es sein kann, auf den Bus zu warten. Sie fuhr in eine musische Schule, so viel fand ich heraus; ich dagegen ging nur auf eine„normale“ Schule. Wie oft hatte ich von ihr geträumt, wenn der Unterricht langweilig wurde? Und mir war oft langweilig geworden. Dann hatte ich sie gesehen, in Gedanken, Klavier spielen, während warmer Sommerwind die Vorhänge umstrich und Schmetterlinge durch die Lüfte trug.
Einmal hatte ich ihr sogar zugewinkt, als sie die Straße überquerte. Ich hatte gemeint ein Funkeln in ihren Augen zu erkennen. Zwei Klassenkameraden hatten mich in den Bus gezogen.
Und dann war gekommen, was kommen musste. Ich hatte eine Lehrstelle gefunden und war aufs Festland gezogen, in ein Wohnheim. Die Insel hatte uns zu wenig Möglichkeiten geboten, die Meisten waren gegangen. Seitdem hatte ich sie nicht wiedergesehen. Die Gedanken an sie hatten mich warmgehalten, wenn Winterstürme über das Wohnheim gefegt waren, wenn ich in Dunkelheit und Nässe ins Büro gefahren war, wenn ich mit grobschlächtigen Typen im Speisesaal gesessen hatte oder wenn ich in meinem Bett gebibbert hatte, weil die Heizung schon wieder nicht lief.
Nostalgisch verklärt grinste ich in ein Gesicht, das auf der anderen Seite der Himbeersträucher auftauchte. „Oh! Guten Tag!“, lachte ich ihm zu.
Die Bilder und Formen meiner Fantasie wurden nach und nach von den Zügen eines echten Gesichtes eingenommen. Stück für Stück glich ich die einzelnen Komponenten mit meinen verblichenen Erinnerungen ab. Die brünetten, halblangen Haare, das blasse Gesicht, der wässrig-warme Blick der Augen, die dennoch zuversichtlich nach vorne schauten - alles passte.
„Oh … Guten ... Tag ...“


Fortsetzung:

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